Minensuchboot M 575 in der Werft, eine Fortsetzung

Begonnen von Seekrieg, 20 Januar 2012, 16:06:54

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Seekrieg

20. Januar 1942 Hamburg                           
Immer dichter rücken die Eisschollen im Hafenbecken aneinander. Wie lange wird es dauern, und sie haben uns eingekesselt. Was dann? Schon jetzt ist es im Boot hundekalt. Uns allen tropft die Nase, und das einstimmige, heisere Husten ist so laut, daß es das Gehämmer der Schaffenden übertönt. So entsteht eine Geräuschkulisse, die einen Großeinsatz der Werft vortäuscht und uns eine 90 %ige Einsparung von Arbeitskraft ermöglicht. Aber das sind Dinge, die uns schon von klein auf im Blute liegen und über die man besser nicht spricht.
Abends war wieder einmal von 22.30 Uhr bis 22.45 Uhr Fliegeralarm. Der Angriff galt also nicht uns. Schön ist es, daß die Flieger immer so zeitig kommen und uns wenigstens unsere Nachtruhe lassen. Aber das soll man nicht beschreien, den Tag nicht vor dem Abend und die Nacht nicht vor dem Morgen loben. Was nicht ist, das kann immer noch werden.

21. Januar 1942                            
Unsere Ecke hier am Ellerholzkai ist für die Werft sozusagen das, was für den Onkel Doktor das Wartezimmer ist. Demzufolge kommt nach abgebüßter Wartezeit schließlich auch jeder einmal an die Reihe. Beim Onkel Doktor erscheint von Zeit zu Zeit die Sprechstundenhilfe und bittet freundlich um den ,,Nächsten". In der Werft übernimmt diese Aufgabe ein Schleppper. Er bittet nicht so höflich, sondern rülpst ein paarmal heiser mit seiner Dampfpfeife und zerrt dann den Patienten an ein paar strammen Seilen hinter sich her zur Behandlung in die einzelnen Abteilungen der Werft. Heute morgen hat er unser Führerboot abgeschleppt. Uns will er morgen oder übermorgen holen. Üben wir also noch ein oder zwei Tage Wartezimmergeduld. Schließlich verpassen wir nichts. Unterdessen nimmt die homöopathische Vorbehandlung der Maschine durch die drei Meister und dem einen Gesellen weiterhin ihren vorgeschriebenen Verlauf. Von den Kameraden aus der Maschine, den ,,Bilgenkrebsen", erfahre ich, daß die Arbeit nur langsam vorangeht und daß das, was man auf der einen Stelle flickt, an einer anderen wieder in die Brüche geht. Eine ausgesprochene Lästerzunge behauptete sogar, heute wäre einem bei der Arbeit der Hammer aus der Hand gefallen und der hätte gleich ein Loch in den Schiffsboden geschlagen. So morsch sei alles!
Selbst wenn man von dieser Geschichte die üblichen 3 % rhetorischen Diskont abzieht, so bleiben immerhin noch 97 % Wahrscheinlichkeit. Es wird mithin höchste zeit, daß unser guter Wellenhopser einmal einer gründlichen Generalüberholung unterzogen wird.

22. Januar 1942                               
Dieselbe Kälte, dasselbe Frieren und dasselbe scheinheilige Gewühle. Am wohlsten fühlt sich noch das technische Personal, tief unten im Bauch des Schiffes zwischen den Trümmern der Maschine. Wenn es der Dienst ermöglicht, verhole ich mich gern einmal dorthin; denn hier unten geht es gewöhnlich rund. Hier wird das neuste vom neuen auseinandergepuhlt.
Führend im Reesen ist immer Fips, unser Palavermacher, und Stenz, der Chinese, ein kürzlich zukommandierter Maschinenmaat mit gelben Teint und schmalen Augen, der gleich Fips über ein unglaubliches Repertoire wahrer und unwahrer Erlebnisse verfügt.  Wir hören ihnen gerne zu; denn sie wirken rhetorisch befruchtend auf unseren Kreis und demonstrieren zugleich konkret, wie leicht bei geltungsbedürftigen Renomisten eingebildete Geschichten durch Selbstsuggestion zu einem wahren Bestandteil ihres Erlebnisschatzes werden können.
Allzu lange halte ich mich allerdings nicht in der Maschine nie auf; denn meine Nase ist noch nicht neutral genug, um den penetranten süßöligen Geruch der Maschine widerspruchslos entgegenzunehmen. Außerdem bleibt dieser Ölgeruch mit Vorliebe in den Kleidern und am Körper haften, und so sehr man sich auch am Feierabend und vor dem Landgang waschen mag, ganz läßt sich dieser Maschinendunst nie abschütteln. Unser Palavermacher hat mithin ganz recht, wenn er behauptet: ,,Da hilft kein Pudern und kein Schminken, ein Maschinenmaat muß ölig stinken!"
Unnötigerweise aber verunreinigen unsere Kameraden von der Maschine nicht nur die Luft, sondern zugleich auch noch unsere deutsche Muttersprache; denn bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit bewegen sie sich in sprachlichen Niederungen oder verfallen in ihre gewohnte technische Ausdrucksweise. Infolgedessen kann man mit ihnen auch nur höchst selten eine hochdeutsche Konversation führen; denn wenn der Durchschnittsbürger beispielsweise spricht: ,,Ich habe mir bei der anhaltenden Kälte einen starken Schnupfen zugezogen", dann sagen unsere Bilgenkrebse: ,,Die Nase leckt." Sie benutzen in diesem Falle auch kein Taschentuch, sondern einen ,,Putzlappen". Meist ist es auch nur ein lappenähnliches, textiles Gebilde.
Fips wieder hatte dieser Tage nicht seinen Fuß verknackst, sondern ,,ausgeschäkelt", und wurde zur Reparatur in die Werft, d. h. ins Revier gebracht. Gestern gab es zu Mittag gebratene Niere. ,,Oh", schrie Wilhelm über die ganze Back, ,,Pißkondensatoren, fein, die werden mir schmecken." Dazu lenzte er eine Flasche Bier, und als er genügend ,,Proviant übernommen" hatte, hieß es: ,,Und jetzt gehe ich ausschlacken und Wasser ablassen."
Ein alter Seemannsspruch besagt:
,,Alles was nichts taugt auf Erden,
kann doch einmal Seemann werden,
und was als Seemann nicht mehr taugt,
das wird als Stoker aufgebraucht!
Manchmal hat es tatsächlich den Anschein.

23. Januar 1942                               
Bei – 8° C morgendlicher Ausgangstemperatur verläuft der Tag parallel zum gestrigen, kalt, unfreundlich und monoton. Die innerliche Erwärmung und Auflockerung erfolgt durch ein paar Kurze und einen lieben Brief von daheim.
,,Nun geht das Briefschreiben wieder weiter", schreibt Gertrud. ,,Es war so schön, daß man jetzt einmal 14 Tage nicht zu Papier und Feder greifen brauchte. Jetzt aber sind wir schon wieder mitten in den Alltagen, oder besser, Alleintagen. Die ersten zehn Tage des Alleinseins fallen mir immer recht schwer, und es dauert eine geraume Zeit, bis ich mich wieder mit allem abgefunden habe, und dann ist es mir, als wäre alles nur ein schöner, schöner Traum gewesen."
,,Hast Du Dich auch wieder langsam eingerichtet und zurechtgefunden? Günter war recht traurig, als er aus der Schule kam und uns allein vorfand, und auch Klein-Jürgen fragt oft, wo der Vati ist. Wir sprechen oft von dir und meine Gedanken suchen Dich immer.
Etwas Belebung und Abwechslung bringt uns jetzt das herrliche Winterwetter...."

1.   Im Dock

24. Januar 1942                               
13 Uhr: der Werftschlepper kommt und röhrt: ,,Der Nächste bitte!" zwei Stahltrossen werden unserem Schiff um den Hals geschlungen, und dann legt sich unser Schlepper kraftvoll in die Seile. Eisschollen knacken, kratzen und poltern. Langsam löst sich unser Boot von der Pier und trottet folgsam dem Schlepper hinterher. Ich wundere mich immer wieder über die enorme Kraft, die diese unscheinbaren, kleinen nautischen Nippfiguren im Bauche haben. Da kann man nur sagen: ,,Klein, aber oho!"
In der Werft soll als erstes der Unterleib unseres Bootes einer genauen Untersuchung unterzogen werden. Da man aber ein so großes Schiff nicht gut auf den Rücken legen kann, so lassen sich Arbeiten am Schiffsrumpf und an den Schrauben nur im Dock durchführen. Dorthin führt uns auch auftragsgemäß unser Schlepper. Das Dock ist ein ganz ansehnlicher Kasten und nimmt nicht nur uns, sondern zugleich auch noch einen Zerstörer auf. Neben uns liegen noch zwei weitere Docks, die ebenfalls bis an den Rand mit Schiffen vollgepfropft sind.
Die Pumpen beginnen zu arbeiten. Langsam steigt unser Dock aus dem Wasser empor und hebt auch unser Schiff mit hoch. Gleichzeitig versteifen Dockarbeiter unser Boot seitlich mit starken Balken gegen die Dockwände, um es in seiner labilen Gleichgewichtslage zu halten. Das ist eine sehr schwierige Arbeit, zumal bei dieser strengen Kälte jeder Wassertropfen am auftauchenden Boot augenblicklich zu Eis erstarrt. Jetzt hebt sich auch der Dockboden, bedeckt mit zahlreichen Eisschollen und mächtigen Eisbrocken aus dem Wasser. Das Eindocken ist beendet.
Neugierig klettern wir sofort auf einer langen Leiter vom  Boot ins tiefe Dock hinab, um ein-mal die Dinge aus nächster Nähe zu betrachten. Das Klettern auf den mächtigen Eisschollen, das Kraxeln an den senkrecht eingeklemmten Eistafeln und manche unfreiwillige Rutschpartie machen diesen dienstlichen Ausflug zu einem Vergnügen.
Der Schiffsboden sieht noch gut und heil aus. Hier wird es kaum etwas zu nieten geben. Aber die beiden Schrauben sind recht zerhackt und ausgefranst. Kein Wunder bei dem Gequirle im Eisbrei. In der Backbordschraube hängt außerdem noch ein längeres Tauende, eine Erinnerung an unser Kolberger tete a tete mit dem Fischlogger. Wie gläsern die schwarzen, eisverkrusteten Schrauben glitzern. Man kann sich nicht satt sehen an dieser winterlichen Schönheit, und immer wieder wandert das Auge die vereisten Bord- und Dockwände hinauf und freut sich an den schimmernden Reihen bizarrer Eisgebilde und Eiszapfen. Man kommt sich vor wie in der Grotte des Zwergkönigs.
Aber kalt ist es! Daran können auch die eisernen Körbe mit dem glühenden Koks nichts ändern, die hier und da aufgestellt sind, und jetzt unter unser Boot gerückt werden, damit die Trinkwasserzellen nicht einfrieren. Auch wir wollen nicht anfrieren und hangeln deshalb wieder in unser Boot zurück. Hier genehmigen wir uns sofort eine Serie Kurze. Was sein muß, das muß sein! Und es muß immer wieder sein; denn in den Decks ist es reichlich kalt, zumal jetzt, wo wir in freier Luft schweben uns unser Boot nichts anderes ist, als ein eisgekühlter Eisenkasten. Ganz dicht sitzt an den Bulleys das Eis und an den Wänden der glitzernde Reif. In den unteren Kojen, die unmittelbar an der Außenwand liegen und in die mitunter das Schwitzwasser von den Wänden läuft, sind die Matratzen und Decken an der eisigen Bordwand festgefroren. Viele Kameraden kleiden sich deshalb zum Schlafengehen gar nicht mehr aus. Trotzdem überkommt die meisten, sobald sie in der Koje klettern, ein Hustenanfall. Dann steckt einer den anderen an und schließlich entsteht ein Gebell wie von Polarhunden. Unsere Nasen sind auch alle zu melken und bedürfen steter Wartung. Die Kälte sitzt eben schon tief in uns, und hier und da fängt schon das Zipperlein an, leise an den Knochen zu feilen. – Oft denken wir dann an unsere Kameraden an der Ostfront. Wie gerne würden sie mit uns tauschen!

25. Januar 1942                               
Es ist wieder einmal Sonntag. Das Thermometer zeigt – 15 ° C. Uns fröstelt. Wenn wir an Land gehen, friert uns auch nicht mehr, und außerdem sehen wir dann einmal ein paar ande-re Bilder. Gegen diese zwingende Logik läßt sich kaum etwas einwenden. Also starten wir, innerlich etwas feucht-heiter angewärmt, gegen 17 Uhr.
Unser Ziel ist zunächst wieder die Reeperbahn. Was uns dorthin zieht, ist schwer zu sagen. Vielleicht ist es bei uns allen das unbestimmte Verlangen, die undefinierbare Sehnsucht, das Eintönige und sattsam bekannte Einerlei der Tage und Wochen durch irgendeine unvorhergesehene Entgleisung zu kom- plizieren und dadurch wenigstens etwas interessanter und erträglicher zu gestalten. Dafür scheint uns die Reeperbahn mit ihrem Auftrieb von Menschen und den ungezählten Anschlußmöglichkeiten das geeignete Pflaster.
Die Reeperbahn selbst ist zunächst einmal eine Straße, sehr breit. In der Mitte ist nichts. Dafür stehen dann an beiden Seiten, wie anderswo auch, dichtgedrängt die Häuser. In jedem Haus aber, und das ist nun das spezifisch ,,Reeperbahnische", befindet sich eine Gast-, bzw. Vergnügungsstätte: Also etwa ein Weinlokal, ein Tanzsaal, ein Kino, eine Schießbude, eine Biervertilgungsanstalt, oder wie diese allzumenschlichen Zeitvertreibe immer heißen mögen. Es ist im vergrößerten Maßstab ungefähr das, was man bei uns zu Hause Jahrmarkt, Vogelwiese oder Schützenfest nennt, nur daß das, was sich bei einem Schützenfest in provisorischen Zelten abspielt, hier in massive Räumlichkeiten verlegt ist.
Nun, was soll ich noch berichten? Auch hier ist es heute kalt. Auch hier spürt man den schweren Atem des Krieges. Nicht einmal ein richtiger Hamburger Grog ist zu haben; denn was heute unter diesem Namen angeboten wird, sieht aus wie Kunstkaffe und schmeckt bestenfalls wie Asphaltwasser. Unter diesen Umständen halten wir uns dann auch nirgends länger auf und trotten bald wieder bordwärts. Hamburg ist schön, aber es muß Frieden sein.

26. Januar 1942                               
Es gibt kein Wasser, d. h. wir haben schon lange keins, und das bißchen, was noch vorhanden und der Kombüse vorbehalten war, ist in den Zellen eingefroren. Es sind wieder – 17 ° C, und die Kokskörbe unter unserem Schiff sind über Nacht ausgegangen. Natürlich, gestern war ja Sonntag.
Nun haben wir uns, zumal bei der strengen Kälte, das Waschen schon lange abgewöhnt. Es genügt ja auch vollkommen, wenn man im Gesicht früh und abend einmal Staub wischt. Die Hände allerdings geben sich mit einer so billigen und antiken Prozedur nicht zufrieden. Man braucht ja nur einmal über Oberdeck zu gehen, und wie oft tut man dies im Laufe des Tages, und schon sind sie rußig und ölverschmiert. Und was wollen erst die Kameraden sagen, die in der Maschine arbeiten? Sollen wir nun aber wegen jeden Tropfen Wasser die weite Reise über sechs Schiffe und drei Docks antreten, und dann noch durch die halbe Werft pilgern, bis wir in dieser Eiswüste auf die nächste wasserführende Oase treffen? ,,Ich wasche mich heute nicht", verkündet Wilhelm. ,,Willst du etwa mit diesen schwarzen Händen heute abend in deine Koje gehen?", frage ich entgegen. ,,Gewiß", antwortet er. ,,Warum nicht, ich halte meine Tatzen einfach querab." Der Vorschlag fand einstimmige Billigung und willige Nachahmung.
Abends noch zweimal eine knappe Stunde Fliegeralarm. Keine Feindberührung.

27. Januar 1942                               
Die ganze Nacht über die Hände aus der Koje halten ist doch nicht das richtige. Erstens strengt es an und zweitens vergißt man es manchmal. Ich weiß eine bessere Lösung und ziehe von früh bis abends Handschuhe an, nicht der Kälte wegen, sondern um Wasser zu sparen. Vor dem Schlafengehen legt man dann die Handschuhe gemeinsam mit seinen Sorgen auf den Stuhl neben der Koje und schläft dann ruhig und unbeschwert, und am Morgen nimmt man dann, je nach Bedarf, beides wieder auf.
Achtern werden von unserem Haupttelefon aus zwei Nebenanschlüsse gelegt, einer führt in die Kommandantenkammer und der andere in die Kammer des Leitenden.
Elektrische Anlagen gehen mich an, und ich erkenne auch sofort die Gefahr. Mit den neu eingebauten Telefonen lassen sich bequem die Gespräche am Hauptapparat, den wir alle, manche sogar sehr ausgiebig benutzen, abhören und überwachen. Das darf nicht sein. Das Liebesleben des gesamten Bootes käme dadurch in Gefahr. Der Zustimmung aller meiner Kameraden gewiß, setze ich mein Veto dagegen.
Meine Vorstellungen, eine Schachtel Zigaretten, und die historische, proletarische Verbundenheit der Werftarbeiter mit den unteren Dienstgraden der Marine, voranlassen den Installateur schließlich auch, die Kabelverbindung um 180 Grad zu wechseln und den Vorzeichen der Situation reziproken Wert zu verleihen. Man muß eben immer auf Draht, manchmal sogar auf dem Draht sein.
Die strenge Kälte hat nachgelassen. Dafür bröckelt eine Fülle von Schneeflocken herab. Dadurch wird der winterliche Zauber vervollkommnet und renoviert. Sogar die niedrig hän-genden Sperrballone haben sich ein keckes Schneemützchen aufgesetzt. Es ist ein schönes, winterliches Bild.
   
28. Januar 1942                               
Der Witterungsumschwung hält an. Die Temperatur ist noch milder geworden, und liegt mit einem Male über Null Grad. Aus den schlohweißen Schnee-flocken werden trübe Regentropfen, und aus unserer schönen, vereisten Kristallgrotte des Zwergkönigs eine Schlammhöhle. Sogar durch die Decke meiner Funkbude tropft es, taktmäßig und unaufhörlich. Auf dem Fußboden sammeln sich Pfützen. Sie erinnern mich an ein Kinderzimmer. Was wird Klein-Jürgen jetzt machen?

29. Januar 1942                               
Von M 557 fehlt nach wie vor jede Spur. Der 2. A.d.O. hat eine Untersuchung angeordnet und einen Auszug aus dem Logbuch abgefordert. Ich habe heute die einzelnen Daten zusammengestellt und füge sie als Anlage bei.
In diesem Zusammenhang erhebt sich natürlich die Frage, inwieweit die verantwortliche Führung die herrschenden Wetterverhältnisse überhaupt in Rechnung gesetzt hat und ob bei der bedingten Seetüchtigkeit der Boote die Fahrt nach Kiel nicht hätte unterbleiben müssen. Aber ich will den Dingen nicht vorgreifen. Im Übrigen keine besonderen Vorkommnisse.

30. Januar 1942                               
Das Wetter ist weiterhin teils - teils, die Temperatur 0°C. Im trauten Verein wirbeln Regen und Schnee vom Himmel. Von der Sonne ist nichts zu sehen. Alles ist grau in grau. Dazwischen hängen Dunst und Nebelfetzen.
Auch im U-Raum herrscht dichter Nebel. Man huldigt wieder einmal der Devise: "Wir trinken Schnaps, wir trinken Bier. Auf Alkohol verzichten wir."
So ein Schwätzchen im Kameradenkreis bei ein paar Flaschen Bier ist doch etwas Herrliches, und zu erzählen gibt es immer. Das liegt schon in der Struktur unserer Tafelrunde. Aus den verschiedensten Teilen Deutschlands bunt zusammengewürfelt, alters- und berufsmäßig stark differenziert, hat jeder etwas zu sagen und will vom anderen etwas wissen. So sitzen wir denn eng beieinander, damit niemandem nichts entgeht und finden, wenn wir einmal im Zuge sind, gewöhnlich schwer ein Ende.
All das aber ist so selbstverständlich, daß es einem erst zum Bewußtsein kommt, wenn es einmal anders ist, wie ja überhaupt das Zuständliche immer erst dann erfaßt wird, wenn es sich aus irgend einem Grunde verlagert. Infolgedessen fällt es auch sofort auf, daß unser liebes Gaudi heute einsam und verlassen in der entgegengesetzten Ecke ganz allein hinter einer Flasche Feuerreiter hockt.
Diese Distanzierung nimmt aber niemand tragisch; denn unser lieber Ernst ist freiwillig ins Exil gegangen. Sein Gemütsmanometer zitterte wieder einmal so nahe am roten Strich, daß niemand mehr mit ihm anstoßen und trinken wollte. So zog er sich denn etwas gekränkt in seinen Schmollwinkel zurück, stößt mit seiner Flasche an und zitiert dabei süßsaure Trinksprüche. Eben deklamiert er:
,,Versoffen die Heuer,
vermatscht das Gehirn.
Von der Jungfrau verstoßen,
geliebt von der Dirn,
von innen vermodert,
nach außen auf Draht,
das ist der richtige Marinesoldat!"
Ernst ist und bleibt nun einmal unser Sorgenkind, aber solange er uns in Ruhe und den U-Raum hell läßt, mag alles noch angehen. Im Übrigen aber glaube ich, daß er sich selbst nicht wohl fühlt. Das Beste wäre für ihn, wenn er einmal einer recht lieben und verständigen Frau in die Hände fiele. Aber mit den Frauen ist es gemeinhin so, daß  alle, bis auf die letzte, Blindgänger bleiben. Diese Letzte aber hat ihn noch nicht getroffen. -

31. Januar 1942                            
Unsere Dockarbeiten sind beendet. 12.00 Uhr wird geflutet. Langsam sackt das Dock ab. In den Schnee auf den Dockboden kluckert trüb das schwarze Hafenwasser. Höher und höher steigt es. Schon plätschert die dunkle Flut wieder um unser Boot und bald nimmt sie uns wie eine liebe Mutter wieder ganz in ihre starken Arme.
Wir schwimmen. Schon kommt auch der bewußte Schlepper wieder, zerrt uns durch Schnee- und Eisschollen heraus, und packt unser Boot an die Außenseite des Docks. Ein Prahm kommt längsseits und verpflegt uns mit elektrischem Strom und Dampf; denn wir wol-len hier liegen bleiben, bis die restlichen Arbeiten im Boot beendet sind, und in acht Tagen etwa in unseren Heimathafen Kiel verholen. Wollen wir! - Ich weiß nicht, ob man bei dieser Kalkulation auch in Rechnung gesetzt hat, daß man in der Werft erfahrungsgemäß unter acht Tagen zirka zwei bis drei Wochen versteht. Aber das soll nicht meine Sorge sein.
Zunächst will ich heute einmal an Land gehen. Das bin ich dem Wochenende schuldig, und außerdem haben sich der Dunst und der Nebel der letzten Tage mir so auf das Gemüt gelegt, daß ich zur Auflockerung der Lebensgeister unbedingt etwas unternehmen muß. Ich gehe deshalb auch alleine, weil ich einmal ganz ungestört mir und meinen Gedanken nachlaufen will.
Zuerst besuche ich ein Kino. Danach pendele ich plan- und zwanglos zwischen der Großen Freiheit und der Reeperbahn hin und her. Schön ist das,  sich so treiben zu lassen. Irgendwo lese ich ,,India-Bar". Das klingt stark nach Dschungel und lockt an. Der Name aber verspricht mehr, als er halten kann; denn mit ein paar bunten Papierlampions allein läßt sich das sonnige Reich des Buddha nicht nach Hamburg verpflanzen. Es verflüchtigt sich sofort in dem unruhigen Stimmengewirr der Gäste, und selbst die schönste Lotosblüte erscheint in den schweren Nebelschwaden aus Tabakrauch und Bierdunst fahl und europäisch verzerrt. Hier ist kein Asyl für anspruchsvolle Mitteleuropäer.
Nicht weit von der India-Bar gehen ein paar Stufen hinab in ein Kellerlokal, das als Hypodrom deklariert ist. Das heißt auf gut deutsch: Hier kann geritten werden. Dies ist zwar nicht meine direkte Absicht, aber schließlich kann man sich das Treiben ja einmal ansehen.
Das Kernstück des Lokals bildet in der Mitte die runde, mit Sägespänen wattierte Reitbahn, in der sich sechs kleine Pferdchen tummeln. Begrenzt wird diese Arena von einer, einen Meter hohen Brüstung, hinter der sich die Tische befinden, an denen die zahlreichen Gäste und Zuschauer PlatZ genommen haben. Hier will ich mich auch für ein Weilchen niederlassen. Es ist einmal ganz unterhaltsam und amüsant, zuzusehen, wie sich hier Mensch und Pferd miteinander die Zeit vertreiben; denn schließlich reiten nicht nur die, die reiten können, sondern auch diejenigen, die nur reiten wollen. So ergeben sich oft ergötzliche Situationen. Auch Damen schwingen sich oft in den Sattel und lassen, wenn die Pferdchen in Trab verfallen, die bunten Röckchen flattern und die eigentlichen Reithöschen farbenfreudig zu Tage treten.
Manche Pferdchen sind etwas müde und auch erhitzt. Die gerissensten von ihnen gehen deshalb an den nächststehenden Tisch und lassen sich ein Glas Bier geben, das sie gar geschickt austrinken. Häufig fressen sie hinterher auch noch den Bieruntersetzer aus Pappe als Nachtisch. Dann traben sie weiter.
Ein Weilchen schaue ich diesen gemischten zoologischen Darbietungen zu. Dann pendele ich noch ein Stündchen kreuz und quer hin und her und husche schließlich gegen Mitternacht durch den Elbtunnel wieder zurück an Bord. Morgen ist ja auch noch ein Tag.

2.   Winterlicher Leerlauf

1. Februar 1942                               
Punkt 16 Uhr starte ich mit Ossi zum Sonntagnachmittagsbummel. Zuerst besuchen wir das Panoptikum. Nachdem wir hier die Größen von heute und gestern gebührend beaugenscheinigt haben, beschließen wir die Dämmerstunde im Kino zuzubringen. Im Kino vergeht die Zeit am schnellsten und schmerzlosesten. Danach lassen wir uns einfach vom Strom der Besucher mit fortschleifen. Da uns aber bald die Zunge vor Durst wieder querab steht, steuern wir ein Bierlokal an. Hier gibt es auch zu essen. Es duftet appetitlich. Schade, daß wir keine Lebensmittelmarken besitzen. Also halten wir uns ans Bier. Es soll flüssiges Brot sein und macht auch satt.
Plötzlich stellt eine dralle Kellnerin vor jeden von uns eine tüchtige Portion Bratkartoffeln mit Sauerkraut und Bockwurst. Eben wollte ich stottern: ,,Wir haben doch keine Marken", als sie mir auch schon ins Wort fällt und sagt: ,,Iß und halt den Mund." Wir haben beides befolgt.
Mit neuem Mut und frisch gestärkt wechseln wir dann hinüber in die Gaststätte ,,Oberbayern". Hier erwartet und eine schneidige Kapelle und das un- vermeidliche Übel: Saalpost. Wir setzen uns an eine Back zu zwei Fliegern und trinken unser Bier, und als es keins mehr gibt, Bierersatz, hier Alster-wasser genannt. Die Farbe ist dieselbe.
Unterdessen kommt die erste Post von Tisch 41 schräg hinter uns, an dem ein paar Hamburger ,,Jungfrauen" Platz genommen haben und uns schon länger liebäugelnd beobachten. Text: ,,Was wird aus uns beiden?" Sofort geht die Antwortkarte ab: ,,Ein strammer Junge!" Die Mädels lassen das natürlich auch nicht auf sich sitzen und antworten: ,,Ein kleines Mädchen wäre uns lieber."
Backbord querab sitzt ein älterer, kahlköpfiger Stabsfeldwebel mit seinem angetrauten Weibe. Beide lassen unseren Tisch nicht aus den Augen und scheinen jede unserer Bewegungen mißbilligend zu kritisieren. Das stört uns schon lange. Nicht weit von ihnen, am Tisch 56, hockt ein Mädchen älteres Semester im lila Kleid, und beobachtet uns ebenfalls unausgesetzt. Auch das stört uns.
Ossi weiß Rat: ,,Paßt auf meint er, die schlagen wir beide mit einer Klappe." Er nimmt eine Postkarte, zückt den Bleistift und kritzelt los: ,,An den Stabsfeldwebel mit Glatze, Tisch 50." - Absenders Tisch 56. – Dame lila Kleid. - Text: ,,Wollen Sie verreisen, weil Sie Ihre Haare schon eingepackt haben?" Fertig. Karte in den Kasten. So, und jetzt unterhalten wir uns ganz intensiv und riskieren immer nur pro Mann einen Blick. Die Karte an den Stabsfeldwebel kommt an. Seine Frau nimmt sie ihm sofort aus der Hand und liest. Dann sprudelt sie wie ein Mg. Der Stabsfeldwebel bekommt einen roten Kopf, greift zum Bleistift und schreibt ebenfalls, was wissen wir natürlich nicht.
Sehr verbindlich scheint er aber nicht geschrieben zu haben; denn kaum hatte die Dame im lila Kleid seine Karte erhalten, so schnellte sie auch schon auf und eilte an seinen Tisch. Wir wollen nicht hinsehen, um uns nicht zu verraten, aber sie scheinen sich gütlich zu einigen und sich nunmehr wohl beide ihren Teil denken. Danach bekamen wir wieder Karten, teils heiterer Natur, teils ernstgemeinte Offerten. Wir beantworten sie im gleichen Tonfall.
Es wurde ein unterhaltsamer Abend und wieder einmal war es schön - bei der Kriegsmarine.

2. Februar 1942                               
Man glaubt gar nicht, was es an einem Schiff immer zu bauen und zu reparieren gibt. Das meiste Kopfzerbrechen bereitet die Dampfmaschine. Z.Z. arbeiten sechs Mann daran, ein deutscher Meister, ein italienischer Kupferschmied, ein Maschinenschlosser aus Frankreich, ein Mechaniker aus Dänemark und ein spanischer, sowie ein holländischer Schlosser. Überarbeiten tut sich natürlich keiner. In Hamburg sind z. Z. Arbeiter aus 21 verschiedenen Nationen beschäftigt. Das nennt man Völkergulasch. Amtlichen Verlautbarungen zufolge sollen in Deutschland jetzt 2,5 Millionen Fremdarbeiter werken.
Das zweite Sorgenkind neben der Dampfmaschine ist unsere elektrische Kraftstation. Tag und Nacht auf Touren und durch allerhand Apparate und zusätzliche Geräte überlastet, kann sie ihr vorgeschriebenes Soll nicht erfüllen und geht deshalb von Zeit zu Zeit in die Knie. Dann ist immer guter Rat teuer. Aber auch die Rudermaschine, die Heizung und die Ankerwinde wollen überholt und einmal liebevoll behandelt sein. Daneben aber gibt es noch hunderterlei andere kleine Dinge, die ebenfalls nachgesehen und repariert sein wollen.
Es heißt immer, M 575 sei ein Gammeldampfer. Das stimmt schon teilweise; denn wenn, um nur ein paar Beispiele zu nennen, unser Kamerad Wilhelm die Stiege zur Brücke hochpoltert, dann bricht eben eine Trittplatte durch. Und hält er sich am Geländer fest, dann hat er im nächsten Augenblick das Gestänge in der Hand. Kommt man an ein Schott, daß noch eine Klinke hat, so kann man von Glück sprechen. Schlägt man das Schott aber hinter sich zu, dann entdeckt man mitunter, daß die Klinke nur einseitig war und daß man gefangen ist.
Kleiderhaken gibt es auch keine, aber das liegt wieder an unserem Gaudi, der so viel und so lange daran hängt, bis auch der massivste Haken losläßt. Für all diese Übelstände an Bord kann man Wilhelm und Ernst natürlich nicht verantwortlich machen. Manches liegt auch in der Natur unseres Bootes, das nun einmal einen leichten,  gammligen Charakterzug nicht ganz verleugnen kann.
Auch dafür ein paar Beispiele: Wird man am Telefon verlangt, so hört man zwar die Stimme des akustischen Antipoden, aber die eigenen Laute trägt der Apparat z. Z. trotz allen Geschreis nicht weiter. Sitze ich aber in meiner Funkbude und drehe die Dampfheizung an, so sprüht Dampf und heißes Wasser aus dem Rohr, und man kann nun wählen, ob man ein Dampfbad nehmen oder lieber im kalten sitzen will. Drückt man auf die Schreibmaschine und liest dann das Geschriebene, so glaubt man, sie hat gestottert; denn manches steht da und manches wieder fehlt. Unseren Apparaten haften natürlich auch diverse Mängel an. So stottert unser Sender ebenfalls hin und wieder, der Empfänger stellt sich mitunter taub und die ,,Schnurgurke" in unserem Ultra-Kurzwellen-Telefon läuft sich wieder mit Vorliebe heiß.
Selbstverständlich muß man ihnen andererseits zugute rechnen, daß so zartbesaitete Naturen wie unsere Nachrichtenapparate das ungestüme Wellen-geschaukel und das dauernde Geplauze mit den Minen nicht widerspruchslos hinzunehmen brauchen. Wer also eine gründliche und praktische funktechnische Ausbildung erlangen will, der mag einen alten M-Bock fahren. Dort ist stets etwas unklar und zu reparieren, und oft liegt die Hälfte der Funkanlage auseinandergetakelt auf dar Back, so daß jederzeit ein Rückgriff auf die Wurzeln der Technik möglich ist. Das aber ist immer von Nutzen.

3. Februar 1942                               
Ich bedauere es immer wieder, daß ich nicht mit Zeichenstift und Pinsel umgehen kann; denn dann würde ich, bei der Fülle von Motiven, die einen hier Tag für Tag ansprechen, mein Skizzenbuch nicht mehr aus der Hand legen. Als erstes würde ich einmal die abendliche Stimmung im Hafen einzufangen versuchen.
Den Vordergrund des Bildes müßten scharf und kantig die dunklen Konturen unseres schwarzen Bootes beherrschen. Zwischen Schornstein, Aufbauten und Reling hindurch aber ließe ich den Blick auf die vereiste Fläche des Hafens gleiten und den Kontrast zwischen Schwarz und Weiß und Senkrecht und Waagerecht voll zur Geltung kommen. Den Hintergrund bildeten die gegenüberliegenden Kaianlagen, die, belebt durch die Silhouetten der Kräne und einiger großer Schiffe, schließlich den Übergang in den dämmrigen Abendhimmel vermitteln. Der Himmel selbst, bleiern und grau, würde unterbrochen durch die dunklen Punkte der Sperrballons, deren vorderster, von einem kleinen Prahm aufgelassen, den Blick wieder herab in den Vordergrund zieht. Das ganze Bild aber müßte beherrscht werden von einem verschwommenen Grau, daß die Dinge ahnen, aber nicht greifen läßt und die Härte des kalten Wintertages auffängt in der aufsteigenden, weichen Dämmerung der Nacht. Schade, daß mir malerische Talente so völlig abgehen. -

4. Februar 1942                               
Das Wetter ist mild und der Himmel verhängt mit schweren, grauen Wolken. Im Hafen hat sich das Eis gelockert. Langsam treibt es am Vormittag seewärts hinaus und kommt gegen Abend mit der Flut wieder zurück. Es ist ein stetes Hin und Her wie ein dauerndes, tiefes und schweres Atemholen.
Gern schaue ich dem Treiben dieser Eisschollen zu. Eng beieinander quirlen sie schürfend und kratzend von der Unterströmung getrieben dahin wie Menschen im Strom der Zeit. Manche Schollen sind scharf und kantig und ecken überall an. Andere wieder sind mehr rund, abgeschliffen und beweglich und schmuggeln sich reibungslos überall durch.
Die einen gleichen den Menschen, die sich ihren Charakter, ihre schöne, menschliche Eigenart noch erhalten haben. Sie stoßen infolgedessen auch oft an und werden gern von allen Seiten bedrängt; denn das ist leicht, billig und entspricht dem Herdentrieb. Und die anderen sind eben die anderen, die abge- schliffenen und gleichförmigen. Sie haben jede menschliche Eigenart, jeden Rest vom individuellen Eigenbewußtsein abgestoßen und das gängige, gesell-schaftliche Normalmaß erreicht, mit dem man sich überall glatt durchschlängeln und rasch vorwärts kommen kann. Sie sind zu Rundlingen der Gesellschaft geworden, die sich bereitwillig von Strom und Zeit treiben und in jede Niederung führen lassen. Merkwürdig, wie die Gedanken kommen und dann wieder davonlaufen. Eben huschte eine ganze Gedankenkette vorüber und ließ nur die Erkenntnis zurück, daß man gar keine Charaktere wünscht. Sie lassen sich so schwer handhaben und dirigieren. Auf was man alles kommt, wenn man sich einmal ein paar Minuten über die Reling beugt und dem Spiel der Eis- schollen zuschaut. -

5. Februar 1942                               
Die Werftarbeiten gehen langsam ihrem Ende entgegen. Ein Kohlenprahm kommt längsseits und mühsam wird die Kohle korbweise in die einzelnen Bunker geschüttet. Dadurch wird der Tag länger als sonst, aber nach dem System: ,,Stöhnen ist die halbe Arbeit", wurde es schließlich doch abend. Ich habe wieder die meiste Zeit in meinem Wachtmeister-Schap gehaucht und Papierkrieg geführt. Ab und zu besuchte mich dabei Wilhelm. Ich weiß nicht, ob er dem Kohlen aus dem Weg gehen oder mit mir in einen Gedankenaustausch kommen wollte. Jedenfalls glückte ihm beides.
Wilhelm hat Sorgen. Wir wissen es. Er hat die Kurve in die Ehe viel zu eng und zu schnell nehmen wollen und ist dabei unter starkem seelischem Gepolter umgekippt. Das war in der Nacht zum ersten Weihnachtsfeiertag. Auch sein Sprachzentrum schien in Mitleidenschaft gezogen zu sein; denn er schwieg einige Wochen beharrlich, und erst jetzt lockert sich mit zunehmendem, geschichtlichem Abstand seine Zunge. Nach und nach erfährt man, daß zwi- schen ihm und Ingeborg alles aus sei, daß von ihrem hochgewölbten Busen nur die Hälfte echt war und daß er nicht gesonnen sei, auf diesem Gebiet nur mit einer Attrappe vorlieb zu nehmen.
Nun hat jede Tragik auch ihre Komik, und ich konnte es mir nicht verkneifen, meinen frauengewandten Wilhelm darauf hinzuweisen, daß Mädchen immer Paketen gleichen und wie diese am vorteilhaftesten von oben nach unten und nicht von unten nach oben auszupacken sind. Aber das ist ja das typische bei der Marine und speziell bei Wilhelm. Immer AK! Alles kann nicht schnell genug gehen, und dann faßt man die Dinge am verkehrten Ende an und - rutscht ab.
Diese Pille schluckte er denn auch tapfer, fuhr mir aber dann ins Wort und sprach: ,,Ich weiß schon, was du sagen willst. Man soll die Rosinen nicht vorweg aus dem Kuchen klauben und den Samstag nicht schon zum Sonntag machen, und in normalen Zeiten, wenn man sich für die einzelnen Dinge genügend Zeit lassen kann, magst du auch recht haben. Heutzutage aber liegt für solche Dinge das Morgen viel zu weit. Im Kriege ist nun einmal jeder Tag Anfang und Ende zugleich, ein abgeschlossenes Stück Leben, hinter dem stets ein Punkt, kein Komma steht. Der Augenblick ist alles! Er kann nicht voll, nicht satt genug sein." Und dann schwieg Wilhelm geraume Zeit, und als er wieder anhub, da sprach er nicht so fließend, sondern stockend, um- wegig und in Kehrreimen, und deutete schließlich an, daß er bei diesem verunglückten Abenteuer auch noch einen kleinen Wilhelm auf Stapel gelegt hätte. Das macht die ganze Angelegenheit natürlich noch komplizierter. Ich konnte ihm infolgedessen auch nur mein herzlichstes Beileid aussprechen und der Hoffnung Ausdruck geben, daß der Zahn der Zeit, der alle Tränen trocknet, einst auch über diese offene Wunde Gras wachsen lassen wird.

6. Februar 1942                               
Das Kohlen geht weiter. Bei der Marine wird viel und gern gekohlt und im Übrigen hat es den Anschein, als ob wir uns langsam reisefertig machen und nach Kiel hinüberwechseln wollten. Indessen, es bleibt beim Anschein; denn einmal ist der Kanal wegen der Eisverhältnisse noch gesperrt und ein Wegfahren sowieso nicht möglich, und zum anderen stößt man immer noch auf Probleme und Arbeiten, die gelöst und erledigt werden wollen. Sobald man aber erst irgendwo anfängt beizugehen, so entdeckt man, daß darunter oder daneben wieder etwas anderes defekt, morsch oder faul ist. All das muß aber dann auch noch nachgesehen werden, und dann geht es auch noch nicht, weil wieder etwas anderes bockt. Auf diese Weise aber wird die Werft-liegezeit wieder um Tage verlängert und daraus werden Wochen. Es ist immer derselbe Refrain. Man kennt ihn schon und gewöhnt sich auch daran. Es tut ja nicht weh. -

7. Februar 1942                               
Sonnabend ist immer Groß-Reinschiff. Das ist wie stets eine schreckliche Angelegenheit. Kein Eckchen an Bord bleibt trocken. Hoch oben vom  Peildeck stürzen die Wassermassen kaskadenförmig herab auf die Brücke und auf die Decks. Von hier aus plätschern sie außenbords oder gurgeln die Niedergänge hinab in die Logis und Kammern. Überall stehen feudel- und schrupperbewehrte Kameraden und sorgen für die gleichmäßige Verteilung des nassen Ele- mentes. Wohin man auch flüchtet, nirgends findet man ein trockenes Fleckchen. Ein Mensch, der auf freiem Felde von einem Gewitterguß überrascht wird, kommt trockener nach Hause, als einer, der während des ,,Rein-Schiff" an Bord von vorn nach achtern geht.
Das beste ist, man verholt sich und tätigt an solchen Tagen seine Einkäufe, und da ich immer etwas einzukaufen, bzw. zu besorgen und zu organisieren habe, begab ich mich heute morgen zum Ausrüstungslager. So einfach wie 1939 und 40 ist das Einkaufen heute im dritten Kriegsjahr allerdings nicht mehr. Die Bestände sind gelichtet, und die Industrie hat Mühe, die laufenden Anforderungen zu bewältigen. Schließlich erhält man aber doch, was man zum Leben bzw. zum Kriege braucht. Ich hatte es heute auf drei neue Kopfhörer und einige Empfängerröhren abgesehen, und konnte auch alles erhalten.
Im übrigen aber ist es so, daß nicht nur der Mann vor, sondern auch der Mann hinter dem Ladentisch die verschiedensten Bedürfnisse hat, und bei einiger geschickter, kaufmännischer Diplomatie lassen sich die Interessen beider bald auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Wenn man dabei noch etwas Tabak oder Alkohol, und beides sind bei uns an Bord keine Engpässe, in die Waagschale werfen kann, dann vermag man leicht jede Bestimmung und Verordnung aus den Angeln zu heben und erhält, was man braucht. Ja, es soll auf diesem Gebiet sogar Spezialisten geben, denen man nachsagt, daß sie ihre ganze Wohnungseinrichtung und den gesagten Hausrat auf diese Weise in der Werft ,,organisiert" hätten. Ich zweifle nicht, daß davon wieder 97% wahr sind.
Sonnabend Nachmittags ist es auch nicht schön und gemütlich an Bord. Da stellt sich gewöhnlich allerhand Besuch ein, so daß man in dem engen U-Raum kaum noch ein Plätzchen für sich findet und das eigene Wort nicht mehr versteht, und wir sind doch bestimmt allerhand Getöse gewöhnt.
Heute hat unser Maschinen- und Verpflegungsmaat, der quadratische Westfale, der hier in Hamburg versippt, verschwägert und veronkelt ist, seine ganze bucklige Verwandtschaft eingeladen. Nun kribbelt und krabbelt es bei uns wie in einem Ameisenhaufen. Sogar unseren Schlafraum haben sie mit Beschlag belegt. Hier entdecke ich in der äußersten Ecke auch meinen lieben Ernst, völlig entalkoholisiert in einem heißen Geflüster mit einem damen- ähnlichen Gebilde. Völlig weidwund scheint er ihr eine Lebensbeichte abzulegen. Es geschehen also auch im 20. Jahrhundert noch Zeichen und Wunder. Ausgerechnet unser Ernst, der für das andere Geschlecht gar nichts übrig hat und von ihm nur als von einem einmal vorhandenen Übel und notwendigen Negativ sprach. Oder sollte das schon der Volltreffer sein?

rocco

Super, vielen Dank für den interessanten Tagebuchauszug.
Ich könnte davon ein ganzes Buch lesen.

Viele Grüsse Rocco!

smutje505


Seekrieg

8. Februar 1942                               
Heute habe ich bis ein halb 10 Uhr geschlafen, bzw. geruht. Bin aber heute Nacht auch erst gegen 2 Uhr in meine Koje gekrochen. Ich hatte mich hoch oben in der himmlischen Einsamkeit meiner Funkbude in eine private Arbeit vertieft und fand dann, wie üblich, kein Ende. Es ist aber auch köstlich, einmal sich selbst und die Welt zu vergessen und zu tun, als ob alles so wäre, wie es normalerweise sein könnte und müßte.
Es gibt eine Philosophie, die sich auf dem ,,als ob" aufbaut. Vielleicht lädt sich auf dem ,,als ob" auch leben; denn so bestimmend die tatsächlichen Gegebenheiten auch immer sein mögen, entscheidend sind die seelischen Reflexionen. -
Um 11 Uhr Post in Empfang genommen, gegen 12 Uhr zu Mittag gespeist, bis 14 Uhr geruht, anschließend das zweite Diner vertilgt und dann mit Ossi an Land gegangen. Kino und Reeperbahn. O.B.
Jetzt zum Abend aber habe ich mich wieder in meinen Funkraum zurückgezogen und kritzle einen Brief an zu Hause. Ich muß die Mutti wieder einmal ein bißchen aufrütteln. Habe im letzten Brief so etwas wie eine leise Depression verspürt.
Sie schrieb: ,,Eben habe ich Jürgen das zweite Mal zu Bett gebracht. Nun ist Ruhe. Jetzt will ich Dir schreiben. Wenn nur der böse Winter bald vorüber wäre, damit die Kinder wieder mehr ins Freie könnten. Die viele Stubenhockerei wird uns allen zu viel. Hand und Kopf stehen im Leerlauf und vergeuden Zeit und Kraft an Dinge, die weit ab von Wege liefen und fern vom Heute stehen." -

9. Februar 1942                               
Nütze die Zeit, auch die Werftliegezeit. Also sprach das technische Gremium unseres Bootes und beschloß, da unsere Zeit einmal noch nicht abgelaufen ist, einen Kreiselkompaß einzubauen, sintemalen solch Werk die Herzen der Seefahrer seit Kolumbus erfreut und eine präzisere Kriegsführung ermöglicht.
Gesagt, getan, und heute ist der neue Kreiselkompaß bereits angerollt. Ich bin kein Pessimist, aber neugierig bin ich doch, was unsere E-Maschine zu dieser neuen Zumutung sagt. Maschinen haben in der Regel Charakter und sind konsequent in ihren Handlungen. Sie halten, was sie versprochen haben und was auf ihrem Leistungsschild steht, aber sie lassen nicht Schindluder mit sich treiben. Dadurch unterscheiden sie sich vom Menschen.

10. Februar 1942                               
Jetzt greift der Werftrummel auch noch auf unsere privaten Wohnräume über. Nirgends findet man ein ruhiges Plätzchen, nirgends eine neutrale Ecke. Die Maler haben ihren Einzug gehalten und im Schlafraum werken die Tischler. Die unteren Kojen sollen etwas von der eisigen Bordwand abgerückt werden; denn sie sind nicht nur kalt, sondern durch das Kondenswasser, das ständig an der Wand herabläuft, zudem noch feucht. In manchen Kojen fängt sogar schon das Bettlaken an zu schimmeln. Es wird deshalb Zeit, daß auch in dieser Hinsicht einmal etwas getan wird.
Um dieser Wühlerei in den engen Decks zu entgehen, lebe ich fast nur noch in der stillen Abgeschlossenheit meiner Funkbude. Sie bekommt mir so gut, daß ich manchmal gar nicht merke, wenn der Tag zu Ende geht, und ich oft bis tief in die Nacht hinein hinter meinem Schreibkram sitzen bleibe. Nicht einmal der Sandmann wagt es dann, mich dabei zu stören. Aber so ist es, Arbeit, die einem lieb und teuer geworden ist, wird zur Erholung.

11. Februar 1942                               
Die Maler haben uns gerade nach gefehlt. Zwar streichen sie die rauchgeschwärzte Decke in unserem U-Raum wieder schön weiß und die Wände mit einem sanften beruhigendem Beige, aber gemütlich ist es nicht mehr. Man kann nur noch durch den Raum balancieren und muß auf Schritt und Tritt aufpassen, daß man bei dem engen Beieinander nirgends an die klebrige Ölfarbe an
Es passiert natürlich trotzdem, und wenn man abends an Land will, muß man sich sehr genau mustern. Gewöhnlich hilft einem der U.v.D. dabei und der M.v.D. hat stets eine Flasche Terpentin und eine Rasierklinge zur Hand, um die Farbflecke zu kassieren. Sie sitzen überall, an den Schuhen und an den Mützenbändern, am Collani und am Hosenboden. Sie müssen restlos beseitigt werden. Erst dann führt der Weg über die Stelling hinaus zur abendlichen Freiheit, bzw. ,,Großen Freiheit".

12. Februar 1942                               
Die Witterung hat umgeschlagen. Den milden Tagen folgt wieder Frost und Schneefall. Allmählich bekommt man den endlosen Winter satt. Glücklicher- weise sind nun wenigstens unsere Handwerker fertig, die Maler und auch die Tischler. Der U-Raum prangt jetzt in einer seltenen, nüchternen Einfarbig- keit, und die Kojen sind auftragsgemäß auch abgerückt worden. An der Bordwand hat man außerdem noch ein dachrinnenförmiges Gebilde angebracht, in dem sich das Kondenswasser sammeln und abfließen kann. Auf diese Weise liegt man nunmehr wenigstens trocken in seiner Kapsel und wird nicht an seine früheste Kindheit erinnert.

13. Februar 1942                               
Die Werftarbeiten nehmen kein Ende. Die Gründe sind verschiedener Natur. Einmal zieht jede größere Reparatur nach wie vor soundso viel kleinere Neben- arbeiten nach sich. Zum anderen liegt unser Boot so weit von den eigentlichen Werkstätten entfernt und ist so ungünstig plaziert, daß allein schon die Anmarschwege einen Großteil der Zeit beanspruchen. Außerdem muß jedes Werkzeug und jedes Stückchen Material noch mühsam über soundso viele Schiffe und Docks an Bord geschleppt werden. Häufig wird aber dann gerade ein- oder ausgedockt, so daß man für einige Zeit überhaupt nicht hin und her kann. Nutzlos stehen die Arbeitskräfte umher. Die Zeit vergeht. Sie wird auch bezahlt, aber fertig wird nichts.
Andere innerbetriebliche Unvollkommenheiten verursachen weitere Zeitverluste. Dazu gehört vor allen Dingen die groteske Überspitzung der beruflichen Zuständigkeit. So weigerte sich beispielsweise der Tischler bei der Reparatur einer Tür Arbeiten am Türpfosten auszuführen, weil dies Sache des Zimmermannes sei. Er lehnte es auch ab, das Türschloß einige Millimeter tiefer zu setzen, weil dafür der Schlosser zuständig sei, und zuletzt wurde auch noch der Klempner herbeigeholt, um das locker gewordene Blech an der Schwelle wieder zu befestigen. Schade, daß es Eisenblech und kein Kupferblech war; denn dann hätte man noch den Kupferschmied bemühen können.  Tatsächlich aber hätte ein handwerklich etwas universal veranlagter Tischler alle diese Arbeiten bequem allein und in der halben Zeit ausführen können.
Mag diese Übertriebene handwerkliche Aufsplitterung der Arbeitsvorgänge zum Teil auch buchhaltungsmäßig bedingt sein, so darf doch darüber das Primäre eines jeden Betriebes, die Produktion und die Rentabilität nicht vernachlässigt werden; denn schließlich lebt jede Produktionsstätte vom Wert der erzeugten Arbeit und nicht von ihren Begleitumständen. Manchen, insbesondere aber staatlichen Unternehmen scheint dieser Sinn für die primitivsten Funktionen des wirtschaftlichen Einmaleins allerdings gänzlich abhanden gekommen zu sein. All das aber sind Dinge, die nur die sehen und erkennen, die mitten im der Materie leben. Infolgedessen wird auch die Zukunft daran nichts ändern, und bis in alle Ewigkeit hinein werden die Schiffe immer eine lange, schöne und geruhsame Werftliegezeit haben. -

14. Februar 1942                               
Unser U-Raum gefällt uns noch nicht richtig. Er wirkt zwar jetzt schön hell, aber auch reichlich kahl und nüchtern. Da muß auch noch eine Änderung eintreten. Bis jetzt haben wir uns dadurch geholfen, daß wir an allen möglichen und unmöglichen Stellen künstliche Blumen angebracht haben. Sie waren uns als Preise in den Schießbuden der Reeperbahn zugefallen, und belebten den Raum wenigstens etwas dekorativ. Leider aber mußten wir dieser Ta-ge einen Großteil unserer papierenen Flora für dienstliche Interessen abzweigen.
Unser Kommandant hatte nämlich Geburtstag, und das Blumenstöckchen, das wir zu diesem Zweck anheuerten, erschien uns bei näherer Betrachtung doch etwas zu mager, so daß uns nichts anderem übrig blieb, als der Natur mit ein paar von unseren duftigen Schießpreisen unter die Arme zu greifen. Geschickt wurden sie ins Geäst des dürftigen Gewächshausproduktes geschmuggelt. Dieser botanische Kunstgriff  erschien uns umso glücklicher, als unsere Blumen bei ihrer konstanten Blütenpracht den legitimen Kindern der Natur gegenüber den Vorzug einer größeren Farbenfreudigkeit und einer unbegrenzten Lebensdauer besaßen. Davon aber ist, wie gesagt, unser U-Raum wieder recht kahl, öde und leer geworden. Man sieht überall das Blech, aber wir werden uns bemühen, dafür bald eine andere ornamentale Verkleidung zu finden.

15. Februar 1942                               
Nach dem Kalender ist heute wieder Sonntag. Trotzdem ist gegen 14 Uhr wieder eine Vier-telstunde Fliegeralarm. Das paßt nun gar nicht in die schöne Sonntagnachmittagruhe. Vermutlich aber will der Engländer einmal nachsehen, was anliegt und wie bei uns das Wetter ist. Nun, immer noch das Übliche: Winterschlaf und – 6°C.  Ich gehe heute nicht an Land. Ich vergrabe mich in meiner schönen, warmen Funkbude in meine Bücher.

16. Februar 1942                               
Geheimnisse gibt es bei uns an Bord keine. Jeder lebt das Leben des anderen mit und kriegt vom Guten wie vom Bösen, von allen und allem seinen Teil ab. So blieb es denn auch niemandem verborgen, daß sich die Funkerei drei neue Kopfhörer angeschafft hat, und jeder spekuliert nun darauf, einen zu erben. Kopfhörer sind nämlich z. Z. das sehnlichste Ziel der Kameraden; denn sobald man im Besitze solcher Flüstermuscheln ist, kann man die Rundfunkleitung im Schlafraum anzapfen und wie der Funkmaat abends, wenn schon überall Ruhe im Schiff ist, in der Koje bis spät in die Nacht hinein Radio hören. Man tut, was man kann, auch ohne Androhung kameradschaftlicher Sanktionen.
Abends mit Ernst und Walter an Land. Erst Kino und anschließend ,,Wilhelmshalle". Danach Luftgefahr 15. Der Tommy schwirrt wieder einmal recht in der Gegend rum. Vermutlich sucht er unsere großen Einheiten, ,,Scharnhorst"  ,,Gneisenau", ,,Prinz Eugen", die am 12. Februar aus Brest ausgelaufen waren, sich die Durchfahrt durch den Kanal erzwungen haben (mein altes Vp.B.1304 war zur Sicherung auch dabei) und nun in irgendeinem Hafen verschwunden sind. Sicher würde er sich freuen, wenn er sie aufspüren und wenigstens nachträglich noch das eine oder andere durch Bombentreffer versenken könnte. Aber man wird sie schon schön zugedeckt haben, damit sie nicht so leicht zu finden sind.
Wenn erst eine Zeitlang Luftgefahr gegeben wird, dann liegen wir meist nicht unmittelbar an der Einflugsroute und haben erfahrungsgemäß nichts Ernst- liches zu befürchten. Trotzdem setzen wir uns vorsichtshalber von der Reeperbahn ab und treten den Rückweg an. Schließlich weiß man nie genau, was anliegt, und wie man den Tag nicht vor dem Abend, so soll man auch die Nacht nicht vor dem Morgen loben.
Ernst weiß es natürlich wieder besser und meint: ,,Wenn du schon zitierst, dann auch richtig. Es heißt: Man soll die Nacht nicht vor dem dritten Morgen loben." Der Mann scheint Erfahrung zu haben. -

17. Februar 1942                               
,,Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von ruhigen Tagen." Es ist so! Ohne jeden Schwerpunkt schlendert die Zeit dahin, und die Stunden ver- gehen mit einem Minimum an Kraftaufwand. So entsteht zwangsläufig eine Anhäufung von potentieller Energie. Da es unsere Führung unterläßt, diesen zersetzenden Tendenzen und ihren Ursachen entgegenzuwirken, bleibt uns nunmehr nur die Möglichkeit, die überflüssige Zeit und Kraft alkoholisch aufzu- lösen und wegzuspülen. Wir erledigen dies planvoll und routiniert, indem wir jeden Morgen einen Kameraden zum Geburtstag abteilen. Von den anderen Kameraden mit Glückwünschen umringt, bleibt ihm dann nichts anderes übrig, als einen Kasten Bier als Gegengabe auf die Back zu stellen. Dann aber braucht man nur noch zu sagen: ,,Prost, Gurgel, jetzt kommt ein Wolkenbruch!"
Unter dieser alkoholischen Beschattung währt dann der Morgenimbiß bis zum Frühstück, das Frühstück bis zum Mittagessen und das Mittagessen bis zum Dienstausscheiden. Dann aber muß man eilen und zusehen, daß man den Feierabend noch rechtzeitig erreicht, damit man wenigstens den Rest des Tages auf zivilgesittete Manier verbringen kann. Es ist nur gut, daß ich einen achtwöchigen Maatenkursus absolviert habe und nunmehr diesen diversen Anfor-derungen der Marine etwas besser gewachsen bin.
Von 02.30 Uhr bis 03.00 Uhr Fliegeralarm. Es kam aber niemand.

18. Februar 1942                               
Mittwochnachmittag ist gewöhnlich zwei Stunden Zeugdienst. Da werden Takelpäckchen gewaschen, Strümpfe gestopft, und Hosen gebügelt. Die Mannschaften sind dabei befehlsgemäß durch einen Unteroffizier zu beaufsichtigen, nicht damit sie es richtig und ordentlich machen, sondern überhaupt etwas arbeiten.
Bislang konnte ich diesen Aufsichtsdienst immer umgehen. Heute ist es mir aber einmal nicht geglückt, und so pendele ich denn ,,aufsichtsführend" zwischen dem Heizer- und Matrosendeck hin und her und passe auf, daß wenigstens jeder so tut, als ob. Und dann wird der I.W.O. kommen und nach- sehen, ob ich auch richtig auf Posten bin und das Matrosenvolk anständig seinen Dienst versieht. Sicher wird auch der Kommandant einmal durch die Decks schlendern und sich beiläufig erkundigen, ob ich nicht den I.W.O. gesehen habe, um sich unauffällig zu vergewissern, ob sich auch der I.W.O., wie er soll und muß, überzeugt hat, daß ich zur Stelle bin und dienstbeflissen die Näh-, Wasch-, Flick- und Bügelstunde überwache. Ich werde auf alle Fälle antworten, daß der Obersteuermann eben erst hier war. Goethe würde genau so handeln; denn er sagt: ,,Man merkt die Absicht und man ist verstimmt." Aus einer Verstimmung heraus läßt sich aber auch eine Falschmeldung rechtfertigen. -

19. Februar 1942                               
Musik kann Labsal sein und Erbauung. Sie kann aber auch als Aufpeitschungsmittel und Narkotikum mißbraucht werden und durch übermäßigen Genuß einen Trancezustand erzeugen, der den Musikbesessenen die Umwelt nur noch verschwommen wahrnehmen läßt. Diese Manie, sich vom Morgen bis zum Abend ein tönendes Nirwana vorzugaukeln, aber hat gleich einer ansteckenden Seuche nunmehr auch unser Boot befallen. Wir leben nicht mehr im Krieg. Wir leben nur noch in Musik. Aus jedem Deck schallt sie uns entgegen. Aus jedem Niedergang gellt sie herauf, und selbst die schweren Korbfender an der Bordwand scheinen im Rhythmus heiserer Saxophone zu knarren.
Synchron mit dem ersten Weckruf am Morgen müssen der Rundfunk eingeschaltet und die Deckslautsprecher auf A.K. gedreht werden. Und dann klirrt das musikalische Getöse den ganzen Tag hindurch, bis der wiederholte Ruf: ,,Ruhe im Schiff" endlich die sinfone Hochflut langsam abflauen läßt. Mitunter verläuft die tonale Überschwemmung durch den Rundfunk aber nicht in den gewünschten, aufgelockerten Bahnen. Sofort hagelt es Proteste. Dann müs- sen wir Funker mit unseren Plattenreserven einspringen und die diversesten Hörerwünsche erfüllen. Alles und jedes wird begehrt und für jede Situation das passende. Am beliebtesten ist ,,Hein mit dem Schifferklavier", ,,Das heimliche Rufen" und der Zara Leander dumpfes Röhren. Bei Kopfschmerzen und allgemeinem Unwohlsein dagegen bevorzugt man die Platte ,,Es geht alles vorüber." Nach Tisch wieder verlangt man das Toilettensolo ,,Wie freu´ ich mich, wie freu´ ich mich, wie treibt mich das Verlangen." Möglich, daß es dann besser geht. Am Abend aber wünscht man sich in erster Linie die erotische Beschwörungsformel ,,Dein ist mein ganzes Herz" und die Triumpharie aus dem Bettelstudent: ,,Ich hab´ sie ja (nicht) nur auf die Schulter geküsst!" Ja selbst aus den Kojen und Hängematten kommen bis zum letzten Augenblick noch die dringendsten Wünsche. Besonders die Mannschaftsdecks sind in dieser Hinsicht kaum zu befriedigen. Die Heizer erzwingen sich gewöhnlich noch den Song ,,Nachts ist das Mensch nicht gern alleine", und die Matrosen bestehen auf ,,Die kleinen Mädchen im Trikot." Sie behaupten, sie könnten dann besser schlafen.
Das aber ist des Pudels Kern; denn in diesem ,,besser" offenbart sich das psychologische Moment, die Tendenz und ganze Zielstrebigkeit dieses musika-lischen Dauertumultes. Besser schlafen, leichter leben, unbeschwerter denken, das ist die Devise. Unzufrieden mit dem jetzigen Leben, angeekelt von der Leere und Zwecklosigkeit der Tage, sucht und greift die Seele nach allem erreichbaren Schönem, Angenehmen und Belebendem und langt mit gierigen Händen und Sinnen nach der Musik, durch die wie auf einem Transportband ununterbrochen eine Fülle von beliebten und gängigen Gedanken und Gefühls-komplexen hereinströmen. Diese erhellen dann in ihrer Gesamtheit das dunkle Grau des Alltages und überlagern die rauhe Wirklichkeit suggestiv mit sonnigen Illusionen. Das setzt natürlich voraus, daß die Einfuhr dieser suggestiven Impulse keinen Augenblick stockt, damit der fromme Selbstbetrug aufrecht erhalten werden kann. Infolgedessen darf auch die tonale Infiltration nicht unterbrochen werden und der Rundfunkapparat muß vom frühen Morgen bin zum späten Abend spielen.
Es ist müßig, über den Wert oder Unwert dieser seelischen Selbsthilfe zu streiten. Schließlich flüchtet sich jeder mehr oder weniger in seine individuellen Wunschgefilde. Der eine träumt in religiösen, der andere in politischen Wahnvorstellungen, der dritte glaubt an Liebe und Treue und der vierte lebt von der Illusion seiner Unfehlbarkeit. Das sind beinahe schon Lebensnotwendigkeiten, seelische Bedarfsgüter. Entscheidend ist, seelisch immer so weit nüchtern zu bleiben, daß man jederzeit weiß, wo das Traumland aufhört und die Wirklichkeit beginnt, damit man rasch genug in die Hemisphäre hinüber-wechseln kann, die der Augenblick jeweils erfordert.

20. Februar 1942                               
Der Rundfunk steht auf AK. Die Deckslautsprecher dröhnen. Im Matrosendeck singt man feuchtfröhliche Lieder. Die Illusion des frohen Lebens ist wieder vollkommen. Wir Unteroffiziere sitzen im U-Raum, debattieren und sind gleichfalls guter Hoffnung. Es ist doch angenehm, alles in einem rosigen Licht zu sehen. Eigenartig aber ist es, daß der Illusionswinkel, und mag er noch so weit und ausladend sein, im Handumdrehen klein und häßlich wird, sobald sich der Blick auf den lieben Nächsten richtet. Haarscharf sieht man dann die Dinge, und klar und realistisch erkennt man am Kameraden auch die kleinste Unebenheit und weiß sie trefflich in Worte zu kleiden. Man münzt sie begrifflich aus und verleiht ihr als Spitznamen eine konstante Form. So kommt es, daß wir an Bord ein ,,Stinktier" haben. Es ist der leitende Ingenieur, ein Mann, von dem die Eingeborenen aus der Maschine behaupten, es ließe sich nicht gut mit ihm Kirschen essen. Darüber hinaus gibt es in unserem engsten Kameradenkreise aber noch den ,,Elefanten", den ,,Stift", den ,,Kolumbus" und den ,,Schamottkopf". Und merkwürdig, die betreffenden Kameraden hören auch auf diese Namen, ein Beweis, daß sie sich doch irgendwie richtig angespro- chen fühlen. Für mich scheint man noch kein richtiges Spezifikum gefunden zu haben; denn man begnügt sich mit einer einfachen Abwandlung meines Vornamens und nennt mich ,,Wlademir". Wenn ich diese Spitznamen höre, muß ich oft an meine Kameraden auf dem Vorpostenboot denken. Dort gab es keine Stinktiere und Schamottköpfe, aber es gab einen Hein, einen Robert und einen Koni. Dort lagen die Realitäten des Krieges und der Kameradschaft allerdings auch beträchtlich näher.

21. Februar 1942                               
Sonnabend. Das übliche vormittags Groß-Reinschiff, nachmittags Groß-Besuch. Ernsts ,,Volltreffer" war auch wieder da. Es hat ihn völlig umgeworfen. Rettungslos liegt er dem Mädchen zu Füßen und ich glaube, sie kann schon jetzt triumphierend behaupten: ,,Ich kam, ich sah, ich siegte!" Ein Mensch ist eben nichts!
Abends habe ich die Kameraden einmal zu mir in den Funkraum eingeladen. Er ist nämlich gar nicht so klein, wie es den Anschein hat. Acht Kameraden waren wir und zwei Kästen Bier hatten auch noch Platz. Nur mit dem Aschebecher wußten wir nicht wohin, aber bis zum nächsten Mal werde ich auch dafür eine Lösung finden. Vielleicht hängen wir ihn an die Decke.

22. Februar 1942                               
Am Nachmittag unternahmen wir zu dritt einen Streifzug durch die Stadt. Wir kreuzten hin und her und gelangten zuletzt auch in ein Lokal, das unserm Spürsinn bis jetzt entgangen war. Hier gab es das übliche, dazu dezente Musik und sich offerierende Mädchen.
Eine von diesen Schönen nahm auch bald an unserem Tische Platz und begann ihre Reize anzubieten. Die Lippen waren rot getüncht, die Augenbrauen schmal nachgezogen und das aschblonde Haar hatte sie kokett zurückgelegt. Sie war wenig über zwanzig Jahre, duftete angenehm nach Sünde und war raffiniert aufgetakelt. Das durchscheinende Röckchen, oben und unten zu kurz, versprach größte Bereitwilligkeit und ließ die schlanken Beinchen und den überquellenden Brustkorb weit zur gefälligen Benutzung herausbaumeln. Alles in allem, sie konnte gut und gerne ein unterhaltsamer, abendlicher Zeltvertreib sein.
Bedauerlicherweise aber traf das arme Mädchen auf drei charakterfeste Männer, die mit dem kleinen Betthasen gern ihren unterhaltenden Scherz trieben, der Sache selbst aber beharrlich auswichen. Besonders der rede- und situationsgewandte Ossi verstand es, sie durch eindeutige Redensarten hinzu-halten und zu verwirren. ,,Ach, Fräulein", jammerte er, ,,in ihrer Haut möchte ich einmal stecken, und wenn es nur fünf Zentimeter wären." Dann aber stieß er ihre Bereitwilligkeit wieder brüsk zurück und sagte: ,,Blond lieb ich überhaupt nicht. Blonde Frauen haben meist rote Haare." Schließlich merkte sie, daß sie, daß außer einer Schäkerei in Worten an unserem Tisch nichts zu gewinnen war und verschwand.     
Wir brachen auch auf und orakelten auf dem Heimweg noch lange über die Differenziertheit und Vielgestaltigkeit der Liebe, die alles sein kann und - nichts. Die Natur hat hier ein Konglomerat von Gefühlen, Empfindungen und Körperfunktionen zusammengestellt. Wie aber soll sich darin der kleine, kurzsichtige Mensch zurechtfinden.

23. Februar 1942                               
Die Werftarbeiten sind beendet. Ja, es ist wirklich so weit. Wir werden als geheilt entlassen und verholen nach unserem alten Liegeplatz am Ellerholzkai. Dadurch hat sich die Aussicht etwas geändert; denn wir haben nun nicht mehr ständig die schwarze Dockwand vor Augen. Nicht geändert aber haben sich die Aussichten auf eine baldige Rückkehr nach Kiel. Hamburg bleibt nach wie vor unser Domizil.
Auch der Dienstplan hat eine Umgestaltung erfahren. An Stelle des steten Arbeitsdienstes tritt jetzt zum Teil Unterricht. Unterricht aber ist schrecklich, wenn er nicht planvoll geleitet und sinnvoll aufgebaut wird. Er wird zur Farce, wenn er immer wieder nur in Maschinen- und Bootskunde mündet oder in Einpauken der militärischen Umgangsformen ausartet.
Schwierig, wenn nicht gar heikel, ist der politische und weltanschauliche Unterricht; denn er möchte mindestens in seiner Grundfarbe braun sein und innerhalb des Auditoriums auf eine nationalsozialistische Koordinierung der Ansichten abzielen. Das aber ist nicht einfach; denn es genügt ja nicht, eine orthodoxe politische Rechtgläubigkeit zu erzwingen oder vorzutäuschen. Entscheidender ist, daß der Wille zur ideologischen Gefolgschaft in der eigenen Einsicht und Überzeugung wurzelt und in der Kameradschaft seine natürliche Ergänzung findet. Das aber setzt auf seiten des Unterrichtenden immer ein gewisses didaktisches Geschick und ein bestimmtes Maß von menschlicher Autorität voraus. Häufig aber fehlt beides, und der Effekt auch.

24. Februar 1942                               
Den größten Kummer bereitet mir hier am Ellerholzkai immer wieder das Telefon. Ein direkter Anschluß ist nicht vorhanden, so daß wir notgedrungen eine lange, fliegende Leitung bis zum nächsten Lagerschuppen legen mußten. Nun arbeiten die Boote aber ständig und stampfen wie ungeduldige Rosse, denen das lange Stallstehen nicht bekommt. Ebbe und Flut tun ein Übriges, und so reißt denn oft das Kabel. Manchmal liegt die Unterbrechung auch in der Zuleitung zum Schuppen und muß erst mühsam gesucht werden. Kurz, das Telefon ist unklar. Dann aber steht kein Stecken gerade, denn alles hat zu telefonieren und wie eine Seuche hat diese Sucht das ganze Boot ergriffen. Sie ist ansteckend und befällt jede Altersstufe und jeden Dienstgrad. Das alle Gespräche dienstlich sind, ist natürlich selbstverständlich. Da hat z. B. der Kantinier zu telefonieren. Ich höre zufällig, wie er sich beteuern läßt: ,,Aber bestimmt kommen!" Ob er die bestellten Waren meint? Ich glaube kaum! Danach ruft der Obersteuermann die Wehrmachtsbetreuung an, spricht dabei aber von 20 Uhr und ,,Zillertal". Scheint eine recht intime Betreuung zu sein! Dann kommt der Menageoffizier ,,Pulverwanze", unser Oberfeuerwerker, angeschwänzelt und braucht ganz dringend Zwiebeln für die Kombüse, obwohl der ,,Schamottkopf" erst gestern davon zwei Säcke abgeladen hat. So aber geht es den ganzen Tag, und zuletzt muß auch noch der 2. A.d.O. angeklingelt werden, und immer vernimmt man weibliche Stimmen, immer melden sich jungfräuliche Matrosen. Da sieht man erst einmal, wie weit die Verweiblichung der Marine schon gediehen ist.

25. Februar 1942                               
Nun ist es unserem Ideenkollektiv, das aus den tüchtigsten und hochqualifiziertesten Köpfen unser U-Messe besteht, doch gelungen, unserem U-Raum eine anheimelnde Note und einen künstlerischen Anstrich zu verleihen. Drei Fresken und drei kernige Sinnsprüche schmücken jetzt die Wände unseres Heimes.
Das Hauptbild zeigt unseren Bootsmaat Stift. Stolz furcht er in einem Kahn die schäumende See und horcht dabei mit einem langen Hörrohr das Wasser nach U-Booten ab, eine dezen-te Anspielung auf seinen Unterwasserhorchlehrgang. Der Kahn trägt selbstverständlich die Inschrift ,,Marie-Luise".
Die gegenüberliegende Wand der Messe ziert eine Nachbildung des durch die Marinefrontzeitung populär gewordenen Hein, und an die Stirnseite der Raumes hat der Künstler einen Strauß dunkelroter Rosen gezaubert.
Die restlichen kahlen Wandflächen aber werden durch drei der bekanntesten Marinestandartsprüche belebt, als da sind: ,,Wer angibt, hat mehr vom Leben", ,,Wer Sorgen hat, hat auch Likör" und ,,Nicht ärgern, nur wundern." -
Im Wundern aber, und das muß ganz klar herausgestellt werden, liegt der Verzicht auf jegliche Kritik und damit  der Ausgangspunkt für eine Lebensauf-fassung, die das Leben zu guter letzt überhaupt nur noch ,,wundervoll"  findet.  Damit aber  schließt sich der Kreislauf der Resignation.  Er führt, wie alle Subtraktionen, zu seinem Ausgangspunkt zurück.

26. Februar 1942                               
Heute Dienstreise nach Kiel. Herrliches  Wetter, nur etwas kalt. In Kiel muß man über Glasscherben und Trümmer steigen. Die Flieger waren wieder da. Kiel ist nun einmal eine alarmreiche Stadt. Zudem kann es der Engländer immer noch nicht verwinden, daß unsere Kriegsschiffe unbehelligt durch den Kanal gekommen sind. Nun läßt er sie durch seine Flieger jede Nacht suchen. Die ,,Scharnhorst" liegt in Wilhelmshaven im Dock, die ,,Gneisenau" in Kiel. Der letzte Angriff erfolgte heute in den frühen Morgenstunden. Wieder fielen die Bomben planlos mitten in die Stadt. So wurde ein Altersheim getroffen und im Hafen die ,,Monte Olivia", die als Wohnschiff neben der ,,Gneisenau" liegt.  Es gab Tote und Verletzte. Das Schiff brennt noch.
20 Uhr Rückkehr nach Hamburg. 22.30 Uhr bringt mich die Fähre 7 rumpelnd und polternd durchs Hafeneis wieder an Bord zurück.

27. Februar 1942                                 
Obwohl wir nichts zu tun haben und uns nur auf die Zehen treten, gibt es doch keinen Urlaub. Ja, bei bestimmten, leider maßgeblichen, militärischen Funktionären herrscht sogar eine bewußte urlaubsfeindliche Tendenz vor. Unfähig eine ehrliche und anständige Ehe zu führen, distanzieren sie sich von Familie und Heimat, markieren den einsatzfreudigen Soldaten und leben aber als ,,fremderregte" Ehemänner in einer faden, sinnliche Glückseligkeit. Ihnen fehlt mithin auch jedes Verständnis für eine innige, familiäre Gebundenheit und der Sinn für das Urlaubsbedürfnis anderer.
Ein Mann bekommt allerdings Urlaub, und zwar vier Wochen,  - der Koch! Vielleicht liegt das in der Natur und der Verflochtenheit der Dinge. Im Übrigen aber vermissen wir unseren Koch absolut nicht; denn seine Vertretung hat ein Kollege vom Nachbarboot übernommen. Seine erste Amtshandlung bestand darin, daß er die Kübel mit der Marine-Tomaten-Einheits-Tunke außenbords  kippte und anständig kochte. Wir begrüßen diese kulinarische Offensive und  stellen uns gern auf seine Kost ein.

28. Februar 1942                               
Ende Februar. – Der Winter liebäugelt schon mit dem Frühling und gibt den Tagen ein schönes, mildes Gepräge. Auch heute schien die Sonne wieder von früh bis abends von einem heiteren, wolkenlosen Himmel hernieder. Es ist Fliegerwetter, zumal nach Einbruch der Dunkelheit der Mond in aufdringlicher Weise noch für eine gute Beleuchtung sorgt. Wir blenden deshalb sehr sorgfältig ab. Gegen 19 Uhr aber kommt Nebel auf und eine Stunde später stecken wir plötzlich in einem einzigen, dicken Brei. Man sieht die Hand nicht vor den Augen. Typisches Wasserkantenwetter. Schön ist das und so beruhigend. So müßte es jeden Abend sein. Dieser Tage las ich in der ,,Feldpost für Hamburgs Soldaten" ein nettes Gedicht. Sonderbarerweise aber stammen diese Reime nicht aus unseren Tagen. Demnach hatte man früher auch schon solche Sorgen. Es war eben alles schon einmal da. Alles!
Das Gedicht lautet:
Die Liebste!
Unter allen in der Welt nur die eine mir gefällt Sie ist so rein, sie ist so zartes gibt kein Wesen ihrer Art,nicht Grete Schmidt, nicht ,,Erika",die Liebste ist die ,,Bolona".Man möcht´ sie herzen, immer küssenund nie im Leben sie vermissen! - Einer für viele.
Ja, die Liebste ist die ,,Bo-lo-na", die bombenlose Nacht!

Urs Heßling

moin, Jürgen,

ganz große Klasse, besoners mit den "Lieblingsliedern" und der Kneipenszene  top :O/Y

Ich bitte um Verständnis für eine Mini-Bemerkung zu
Zitat von: Seekrieg am 21 Januar 2012, 08:36:42
26. Februar 1942                               
... Die Flieger waren wieder da. Kiel ist nun einmal eine alarmreiche Stadt. ... die ,,Gneisenau" in Kiel. Der letzte Angriff erfolgte heute in den frühen Morgenstunden. Wieder fielen die Bomben planlos mitten in die Stadt. So wurde ein Altersheim getroffen und im Hafen die ,,Monte Olivia", die als Wohnschiff neben der ,,Gneisenau" liegt.  Es gab Tote und Verletzte. Das Schiff brennt noch.

Dieser Angriff war der, bei dem es auch die "Gneisenau" erwischte (Vorschiff ausgebrannt, 112 Tote). Das Wohnschiff war die "Monte Sarmiento" (38 Tote).

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

Albatros

Der 22. Februar 1942 .....einfach köstlich.....  :O/Y :MZ:

:MG:

Manfred

Seekrieg

Hallo Urs,
korrekt,  in Vaters TB am 2. März zu lesen.
Mit Gruß :MG:
Jürgen

Stichling

Hallo !

    Sehr, sehr interesant,handelt es sich um zeitgemäße Tagebucheintragungen oder um nachträgliche Erinnerungen ?

Grüße Stichling

Seekrieg

#8
Hallo,
die Frage ist eigentlich überflüssig, denn schon im laufenden Text steht geschrieben, daß W.St.täglich Eintragungen ins Tagebuch vorgenommen hat. Das ist auch leicht auch an den präzisen Zeitangaben zu erkennen. Später wäre es nicht mehr zu realisieren!

J. Stm.

Stichling

Hallo Seekrieg !

     Zu meiner Fragestellung, der Schlager "Nachts ist der Mensch nicht gern alleine" entstammt dem UFA Film "Frau meiner Träume" und der kam erst 1944 in die Kinos. Aber nichts für ungut.

Stichling

Seekrieg

1. März 1942                                 
Sonntags bleibe ich früh gern etwas länger in der Koje liegen. Irgendwie muß man dem dritten Gebot ja auch seinen Tribut entrichten. Heute aber, bei dem diesigen Wetter, fällt das Liegenbleiben besonders leicht. Eben habe ich einmal das Bulley an meiner Koje aufgeriegelt und aufgeblendet. Es ist schon hell draußen, aber ganz neblig. Gefroren muß es auch haben; denn das Hafenbecken ist ganz dicht.
Nahe vor meinem Bulley trippeln ein paar Möwen auf dem Eis hin und her. Ihnen will es gar nicht in den Kopf, daß ihre ,,Brotkapsel", bzw. ihre unerschöpfliche Fischtonne, wieder einmal abgeschlossen ist. Nun werden sie sich den Magen zubinden müssen. Eine einzelne Möwe steht schon geraume Zeit unbeweglich mitten unter den anderen. Sie resigniert und schüttelt nur ab und zu bedächtig mit dem Kopf. ,,Nicht ärgern, nur wundern", mag auch sie denken und schaut dann wieder lange Zeit unverwandt vor sich hin. Ob es ihr nicht langsam zu kalt wird an die Füße? Ich möchte jedenfalls nicht so lange barfuß auf dem Eis stehen.
Um 11 Uhr kommt der Postbote. Heute meint er es besonders gut und bringt mir gleich drei Briefe, zwei sind von daheim. Da habe ich  nun für den Sonntag meine  Beschäftigung, lesen und wieder schreiben. Aber zunächst will ich einmal hören, was es zu Hause neues gibt. Allem Anschein nach ist die Tendenz recht uneinheitlich. Der lange Winter, die ewige Stubenhockerei, das aussichtslose der ganzen Lage belasten auch  ein standhaftes Gemüt und machen die Tage noch schwerer, als sie an sich schon sind. Äußerlich geht alles seinen gewohnten Gang.
,,Günter ist trotz des kalten Wetters viel im Garten. Schnee und Schlitten locken zu sehr und lassen alle Hausaufgaben vergessen. Dabei wird er selbst zum Schneemann oder Eismann. Jetzt aber ist er krank. Er hat die Masern und liegt in Bett. Diese Krankheit trifft man jetzt fast in jedem Hause an und aus Günters Klasse fehlen aus diesem Grunde schon die Hälfte der Kinder. Jürgen ist noch gesund, - noch. Oft fragt er auch nach Dir und klagt dann: ,,Vati lange fot, Siff."

2. März 1942                                 
Bin wieder unterwegs. 10.47 Uhr mit Eilzug nach Kiel. Hier mit Straßenbahn Linie 8 zur Werft gefahren. Strecke teilweise durch Blindgänger unterbrochen. Auf dem F-Boot die U.K.-Verteilung klariert. Neben dem Führerboot liegt die ,,Monte Sarmiento", bzw. daß Wrack, arg verbeult und völlig ausgebrannt. Die ,,Gneisenau", die ebenfalls in unmittelbarer Nähe liegt, hat in den letzten Nächten auch einen Bombentreffer abbekommen. Gegen 20 Uhr wieder zurück nach Hamburg.

3. März 1942                                 
In Anerkennung unseres Kolberger Einsatzes wurden heute einige von der Besatzung mit dem E.K. ausgezeichnet. Diesmal hat man sich nicht so lächerlich gemacht, wie bei der letzten Verteilung, wo man nicht Eiligeres zu tun hatte, als zunächst einmal den Koch das E.K. an den Rockzipfel zu baumeln.
Es ist natürlich immer schwierig und heikel, die vier oder fünf Auszeichnungen, die zur Verfügung stehen, gerecht unterzubringen; denn schließlich erfüllt auf See, noch dazu bei so kleinen Einheit, jeder an seinem Platze seine Pflicht. Der eine setzt wie der andere rücksichtslos sein Leben ein, und keiner ist ohne den anderen denkbar. Wenn man für einen solchen besonderen Fall aber trotzdem eine Differenzierung vornehmen muß, dann ist es nur gerecht und billig, daß die Männer an den Räumgeräten und in der Maschine vor allen andern den Vorzug haben; denn dort ist die Feindberührung am innigsten und tödlichste.
Aus unserer Mitte wurde Ossi in seiner Eigenschaft als Sperrwaffenobermixer ausgezeichnet. Wir freuen uns mit ihm für diese wohlverdiente Anerkennung. Er aber fühlt sich daraufhin veranlaßt, mit uns am Nachmittag, der dienstfrei ist, ein paar Flaschen Feuerwasser zu lenzen, so daß von dem E.K. Segen auf alkoholischen Umwegen schließlich für alle etwas abfiel.
Von 02.30 Uhr bis 03.00 Uhr Fliegeralarm. Es kam aber niemand. 

3.   Der Winter nimmt kein Ende.

4. März 1942                                 
Nach dem milden Wetter der letzten Tage hat sich wieder die polare Kaltluft in unserem Raum eingenistet. Das Thermometer zeigt – 7° C und der zaghafte Frühling die Fersen. Nachmittags Zeugdienst. Ich übernahm die Aufsicht, nicht gerade freiwillig, aber auch nicht mit der üblichen beleidigten Mine, mit der ich dienstliche Zumutungen mitunter zu quittieren pflege. Böse Zungen aus dem Kameradenkreis behaupteten daraufhin allerdings, ich trüge mich bestimmt mit der Absicht, den Alten um Urlaub anzugehen. Zu meiner Schande muß ich aber gestehen, daß ich diesen Gedanken noch nicht ins Auge gefaßt habe.
Im Augenblick interessiert mich bei diesem Dienst vielmehr die Möglichkeit, einen bestimmten, persönlichen Kontakt zu den Kameraden im Heizer- und Matrosendeck zu gewinnen. Und dann interessiert mich die Art und Weise, mit der sie mich abzutasten und auseinanderzunehmen versuchen; denn allgemein ist es ja so, daß man nie gern die Litze allein respektiert, sondern immer versucht, dahinterzuschauen. Erst wenn man den Menschen erkennt und sich von seiner Geradheit und Anständigkeit überzeugt hat, ist man bereit, eine Charge auch innerlich als solche anzuerkennen. Deshalb lasse ich mich während dieses Dienstes gern mit den Kameraden in ein persönliches Gespräch ein. Dadurch rundet sich auf beiden Seiten das Bild. Außer-dem erfährt man dies und jenes, weiß, wo die anderen der Schuh drückt, was sie bewegt und in welche Richtung ihre Gedanken schweifen. Man lernt die Charaktere kennen, sie behandeln und anwenden. Man sieht, wer Rückhalt braucht und der Unterstützung bedarf, wer Individualist ist und die anderen gern bevormundet und überfährt, oder was ein Frechdachs ist, der mit Vorliebe Beine stellt.
Diese letzte Kategorie scheint übrigens besonders stark im Heizerdeck vertreten zu sein; denn hier versuchte man immer wieder, mich in heikle und holprige Gespräche zu verwickeln. So fragte mich einer, ob ich den Unterschied zwischen einem Schorn-steinfeger und einer Schwalbe kenne, und fuhr, nachdem ich vorsichtig und zurückhaltend verneint hatte, fort: ,,Ganz einfach! Die Schwalbe hat eine weiße Brust und einen schwarzen Schwanz und der Schornsteinfeger eine schwarze Brust und  - um 4 Uhr Feierabend."
Natürlich hatte er die Lacher auf seiner Seite, und als ich ihm entgegenhielt, daß sich eine Unterhaltung nicht immer auf einer ungezogenen Ebene zu be- wegen brauche, meinte er nur: ,,Bitte keine falschen Unterstellungen. Ich habe vom Feierabend gesprochen und von nichts Anderem." - Nun knoble ich, wie ich das 1:0 für ihn bei pas-sender Gelegenheit wenigstens in ein erträgliches 1:1 abschwächen kann. Hoffentlich fällt mir etwas Vernünftiges ein. -

5. März 1942                                 
Es ist eine Hundekälte, - 14 ° C. man wagt kaum die Nase an Oberdeck zu stecken und verliert alle Lust, an Land zu stenzen. Die Lebensgeister frieren ein und immer öfter greift man wieder zu seiner alkoholischen Wärmflasche. Und so verbringt man seine kurzen Tage. Wer weiß, wie viele es noch sind.

6. März 1942                                 
Zur Abtötung von Blechkrankheitssymptomen unternahm ich heute mit Ossi und Ernst einen exzentrischen Reeperbahnbummel. Nach einigen alkoholischen Ausschweifungen gingen wir in einem Lokal vor Anker, das Revue und Attraktion versprach. Die Attraktion bestand aus Bodengymnastik und die Revue aus einer Handvoll Girls, die fast bis zum Hals hinauf barfuß gingen. Wenn wir unsere Kleiderkarte auch so schonen würden, finge uns bestimmt die nächste Wehrmachtsstreife weg. Aber lassen wir das. Unsere Frauen genießen nun einmal diese althergebrachten und unveräußerlichen Vorrechte. Zudem befanden wir uns hier in einem Amüsierlokal, in dem jeder nach seiner Facon selig werden sollte. Diese Möglichkeit aber war um so eher gegeben, als sich bei der  aufgelockerten geselligen Atmosphäre die interessierten Partner sehr schnell zu einer anonymen Stundenglückseligkeit fanden, und selbst die fortgeschrittene Jugend, der man das Verheiratetsein schon von weitem ansah, dabei die Ansicht vertrat: ,,Die eigene Frau im Spitzenhemd ist nicht so schön wie einmal fremd." 
Dieses leichtbeschwingte Segeln ohne Kompaß und mit gelöschten Positionslichtern hat natürlich viel Verlockendes für sich. Andererseits aber geht dabei schnell jede Orientierung verloren und die Gefahr einer Kollision ist meist größer, als man es wahrhaben will. Merkwürdig ist nur, daß sich so viele ältere und gesetzte Menschen an diesen erotischen Schwarzfahrten beteiligen. Ich glaube, hierbei handelt es sich vielfach schon um krankhafte Alterserschei-nungen, die sich in betontem Lebensüberschwang und ängstlichem Festhalten an den, was war, auswirkt. Im klassischen Sprachgebrauch nannte man diese Alterserscheinung ,,Karlsbader Elegie". Sie scheint auch heute unter der älteren Generation stark verbreitet zu sein. -

7. März 1942                                 
Trotz aller Eintönigkeit vergehen die Wochen wie im Fluge. Nun ist es schon wieder Sonnabend und Wochenende. An Land gehe ich bei der Kälte natürlich nicht. Außerdem kennt man die Sehenswürdigkeiten und Lustbarkeiten Hamburgs nunmehr einigermaßen, und jeder Landgang bringt mehr oder weniger nur eine Wiederholung und Unterstreichung. Außerdem kann man bekanntlich das Land auch von Bord aus sehen. Manchmal sieht man sogar von hier aus mehr, als man von der Reeperbahn aus wahrnehmen kann. So schleppte man vor einer Stunde den Schweren Kreuzer ,,Admiral Hipper" vorbei und macht ihn jetzt, uns gegenüber, an der Pier fest. Er muß auch ins Dock, soll Schraubenschaden (3 Schrauben) haben. Es ist ein ansehnliches Schiff, das erst am 29. April 1939 in Dienst gestellt wurde. 10 000 t für den Gegner, tatsächlich aber über 14.000 t, 206 m lang, 21,30 m breit, Geschwindigkeit 32 sm, Besatzung 1600 Mann, 8 Geschütze 20,3 cm in 4 Doppeltürmen, 12 Fla-Geschütze 10,5 cm in Doppellafette, 12 Geschütze 3,7 cm in Doppellafette, 12 Torpedorohre in ,,Drillingssätzen" und drei Arado Ar 196 Bordflugzeuge. Damit läßt sich schon etwas anfangen.
Was würden unsere Vorfahren von einst zu dieser grandiosen Entwicklung, zu diesem enormen Fortschritt sagen? Wenn sich unsere alten Hanseaten einmal eine solche moderne ,,Kogge" ansehen könnten, wären sie bestimmt sprachlos. Es kann allerdings auch sein, daß ein besonders Weiser antworten würde: ,,Was wollt ihr denn? Was hat sich groß geändert? Zeigt uns einmal den Fortschritt der Jahrhunderte! Gibt es nicht immer noch Krieg, Kampf und Tote? Um den Sieg zu erringen, genügen Enterbeil und eiserne Kanonen vollkommen.
Das haben wir zur Genüge bewiesen. Was soll dieses eiserne Ungeheuer, zumal es noch leichter sinkt als unsere hölzernen Galeeren? Was ihr Fortschritt nennt, ist nichts weiter als eine Multiplikation. Ihr habt aus Einzahl Mehrzahl gemacht und aus der Eins eine Hundert oder Tausend. Ihr seid aus kleinen Stämmen ein großes 70-Millionenvolk geworden und habt die Kräfte addiert. Das ist alles, oder besser – nichts! Ein natürlicher Vorgang, nicht einmal eine Entwicklung, geschweige denn ein Fortschritt; denn das Verhältnis von Mensch zu Mensch ist doch dasselbe geblieben. Es ist noch genau so bitter wie einst. Das aber gilt es zu verändern, und nur das allein wäre – Fortschritt! –

8. März 1942                                 
An Bord geblieben und Zeugdienst gemacht. Es war unbedingt nötig; denn meine Hosen fielen bald auseinander, und an den Jackenärmeln sah man auch schon, wo die Löcher hinkommen sollten. Dabei habe ich mich der Philosophie des ,,als ob" hingegeben und getan, als wäre ich ganz allein auf der Welt. Ich habe gut gegessen, angenehme Musik gehört und einen herrlichen Sonntag verlebt.

9. März 1942                                 
Die Witterung hat umgeschlagen. Es ist etwas milder geworden. Ein auflandiger Wind aber hat das Eis, das bereits abgetrieben war, wieder in den Hafen zurückge-drängt. Gestern war der Hafen fast frei und jetzt hat er sich wieder so dicht gefüllt, daß man glaubt, hinüberlaufen zu können. Durch die stete und starke Vereisung des Hafens sind z. Z. allein elf Fährboote infolge Schraubenschadens ausgefallen. Viel mehr möchte es nicht werden. Eben bug- sieren ein paar Schlepper die ,,Potsdam" (17 000 t) durch den Sturzacker von Eis und Schnee und binden sie hinter uns an der Pier fest. Wie niedlich man sich immer einem solchen Brocken gegenüber vorkommt, und doch ist auch bei ihm, genau wie bei uns, alles nur Blech. Man sollte sich von Größen nicht verwirren lassen!

10. März 1942                               
Unser kleiner Werftbegleiter und Boy ,,Flint 8", der uns während der ganzen Hamburger Liegezeit auf Schritt und Tritt begleitete, sich stets neben uns legte und unser Boot mit Heizdampf versorgte, ist uns heute untreu geworden. Er hat andere Aufgaben übernommen. Schade, wir hatten uns so schön an ihn gewöhnt und auch mit seiner Besatzung gut angefreundet. Besonders oft saßen wir mit dem Maschinisten zusammen. Er war 1914 Matrose auf der ,,Emden" und nach ihrem Untergang lange Zeit in einem englischen Gefangenenlager auf Malta. Wunderbar konnte er erzählen. Gern betrachteten wir seine Fotos aus der damaligen Zeit und lauschten seinen Berichten. Nun müssen wir wieder auf eigenen Beinen stehen, müssen selbst Dampf aufmachen und können uns nicht mehr auf unseren kleinen Bruder verlassen. Vielleicht wurde uns seine Gesellschaft auch langsam zu teuer. Er kostete uns täglich 400 RM. Kleine Leute haben auch ihre Taxe.

11. März 1942                               
Nachdem in letzter Zeit die Nächte einigermaßen ruhig waren, häufen sich neuer-dings die Einflüge wieder. Fast täglich und auf die Minute treffen die feindlichen Flieger ein. Im Januar erschienen sie gegen 20.30 Uhr. Weil sie das Licht fürchten, ver-schiebt sich mit den längeren Tagen im Februar die Ankunft auf 21.15 Uhr und jetzt kommen sie gegen 22.15 Uhr. Bei diesigem Wetter verzögert sich ihr Einflug 10 bis 15 Minuten. Und sonntags kommen sie 15 Minuten vor ihrer üblichen Programmzeit. Da scheint ein anderer Dienstplan vorzuliegen. Eins aber wundert mich, daß sie Hamburg so ungeschoren lassen. Teu, teu, teu!
Im Übrigen aber nimmt der Krieg durch diese nächtlichen Bombardierungen der Städte allmählich Formen an, die niemand mehr verantworten kann; denn das ist kein Krieg, auch keine Vernichtung des gegnerischen Kriegspotentials, sondern be-wußtes Morden von Frauen, Kindern und Männern, eine Vernichtung von Jung und Alt. Mit dieser Methode kann man vielleicht den Krieg gewinnen, bestimmt aber den Frieden verlieren; denn man zerstört damit die Gegenwart, d. h. das Bindeglied zur Zukunft. Ist aber das Heute tot, dann ist das Morgen nicht lebensfähig. Was dann?

12. März 1942                               
Nicht weit von den Toren Hamburgs, nur einige kurze Bahnstationen entfernt, liegt Friedrichsruh, die Ruhestätte Bismarcks. Gemeinsam besuchen wir heute diese nationale Wallfahrtsstätte. Das schlichte, unmittelbar am Bahnkörper gelegene Landhaus, in dem der Altreichskanzler seine letzten Lebens- jahre verbrachte, ist jetzt als Museum eingerichtet. Die eigentlichen Wohnzimmer sind in ihrem ursprünglichen Zustand belassen und spiegeln den äußerst einfachen und bescheidenen Lebensstil des abklingenden 19. Jahrhunderts wieder, der dieser Zeit, trotz ihrer aufstrebenden Entwicklung und gediegenen Wohlhabenheit spezifisch eigen war. Zahlreiche ausgelegte Geschenke und Ehrenbürgerbriefe zeugen von der großen Verehrung, die Bismarck im deutschen Volke genoß, und aus den vielen handschriftlichen Briefen, Mitteilungen und Aufzeichnungen weht uns der Atem geschichtlichen Geschehens entgegen, das Werden des zweiten Reiches. Reiche sind vergänglich. Sie sind der Leib eines Volkes, nicht seine Seele, sind nur die äußeren Erscheinungs-formen der staatlichen Struktur und Ausdruck eines zeit- bedingten, politischen Volkswillens. Sie unterliegen der nationalen Entwicklung und – der Mode, und wandeln sich infolgedessen. Jedes Zeitalter wird deshalb nach seinem Reiche streben. Auch wir befinden uns in einer Epoche eines solchen Umge- staltungsprozesses und mauern an unserer politischen Fassade. Entscheidend ist nur, daß sie der nationalen Eigenart des Volkes angepaßt wird.
Die letzte Ruhestätte hat Bismarck gemeinsam mit seiner Gemahlin in einer kleinen Kapelle jenseits des Bahndamms gefunden. Die beiden Sarkophage sind bedeckt mit zahlreichen Kränzen. Ruhm welkt nicht, und die vielen frischen Blumen von heute legen neben den vergilbten Kranzschleifen von gestern Zeugnis ab von der tiefen und steten Dankbarkeit, die unser Volk diesem großen Staatsmann und seiner vorwärtsstürmenden Epoche zeitlos entgegen-bringt.
Abends von 23.00 Uhr bis 23.45 Uhr Fliegeralarm. Es wurde auch ein paarmal Sperr-feuer geschossen. Es scheinen aber nur ,,Passanten" gewesen zu sein, die ein anderes Ziel anflogen.

13. März 1942                               
Mutti schreibt: ,,Günter hatte die Masern. Gestern war nun der Doktor wieder da. Inzwischen ist aber auch Jürgen krank geworden. Es war voraus-zusehen. Nun sitze ich wieder bei abgedunkelter Lampe bei Jürgen am Bett. Mit Günter habe ich mir während seiner Krankheit einmal unsere Fotoalben angesehen, und mir war es so, als wäre ich auf einmal in einer ganz anderen Welt. Ich kann mich an alles noch so deut-lich erinnern und oft auf jede Kleinigkeit besinnen. Was waren das für schöne Zeiten. Damals brannten abends auch noch die Laternen auf der Straße. Wann wird es wieder einmal so sein wie es war?  Wann?"
Das Ziel des gestrigen Nachtangriffes war Kiel.

14. März 1942                               
Es will kein Frühling werden! Jeden Morgen steige ich hoffnungsfroh an Oberdeck, aber immer wieder weht einem der eisige Atem des Winters entgegen. Das Thermometer zeigt sein 5, 8, oder 10 Grad Kälte. Der klare, wolkenlose Himmel hat die glei-che frostige Tendenz, und so oft ich auch die Eisschollen im ,,Bach" zu zählen versuche, es werden ihrer nicht weniger. Nur zerschrammter und mitgenommener sehen sie aus. Stetig im Rhythmus von Ebbe und Flut defilieren sie an uns vorüber. Gern schaue ich dem Spiel zu, und wenn ich eine recht angeschlagene Eisscholle sehe, dann denke ich, sie hat sich die Nase an der Pillnitzer Insel eingerannt oder ist den Pfeilern der Augustusbrücke in Dresden nicht rechtzeitig genug aus dem Wege gegangen. Auch das sind Grüße aus der Heimat. Schließlich läßt mich dieser Gedanke gar nicht mehr los und verdichtet sich förmlich zu der fixen Idee: Du mußt wieder einmal auf Urlaub fahren.

15. März 1942                               
Steif steht am Mast die Flagge im Wind. Auch von allen anderen Schiffen, von den Gebäuden, Häusern und Kirchen flattern die bunten Fahnen in den trüben Sonntagmorgen hinein. Vom bewölkten Himmel fällt hin und wieder zwischen wandernden Wolkenfetzen ein Strahlenbündel der Sonne wie durch die hohen Fenster eines Domes steil und streifig herab. Im Hafen herrscht feierliche Stille. Wir gedenken der Toten. Erinnerungen recken sich. Steil bäumen sich die harten Wochen von Kolberg im Gedächtnis auf, die herbstlichen Fahrten im stürmischen, heimtückischen Wasser. Wir hören wieder das harte Dröhnen der Explosionen, sehen M 511 in den Wellen versinken, M 529 kentern, das Bild der schaukelnden Bojen auf den frischen ,,Gräbern". Wir erinnern uns der stürmischen Fahrt von Kolberg nach Kiel am dritten  Weihnachtsfeiertag, wo eisige Wogen das dritte Boot unserer Flottille, M 557 heimtückisch und hinterhältig verschlangen. Keinem Kameraden konnten wir helfen, keinen retten, keinen haben wir wiedergesehen. Wen die See einmal gepackt hat, den läßt sie nie mehr los, weder die Lebenden, noch die Toten.
Die Gedanken schweifen weiter. Sie suchen in der Nordsee nach dem alten Boot, nach 1304, nach den alten Kameraden. Trotzen auch sie noch der See, dem Feinde und den Hinterhalten des fremden Landes? Sind die stummen Kameraden von Vlissingen noch allein? Sie waren die ersten, die gingen und nicht wiederkamen. Wie weit ist uns der Tod seitdem entgegengekommen! Überall treffen wir ihn jetzt, selbst fern von den Fronten mitten im heimat-lichen Hinterland. Er ist rasend geworden, zertrümmert Stadt um Stadt und läßt die Menschen zu Tausenden umsinken. Immer tiefer werden die Gräber und breiter, endlos die Reihen der stummen, anklagenden Kreuze. Und was bleibt? Der Mensch. Vielleicht liegt hier überhaupt die Tragik unserer Zeit und unseres Geschlechtes. -

16. März 1942                               
Wenn man einmal, wie z.B. am gestrigen Trauertag für sich die Bilanz des bisherigen Krieges zieht, dann stößt man immer wieder auf die Frage nach den Ursachen und Urhebern dieses schrecklichen Krieges und dieser furchtbaren Selbstzerfleischung. Zweifellos wird diese Kriegschuldfrage auch nach Beendigung des Krieges aufgeworfen werden. Welche überparteiliche Instanz aber soll dann das Urteil fällen? Nach dem ersten Weltkrieg fühlten sich allein die Siegermächte dazu berufen. Dadurch aber wurde von vorn herein jede sachliche und objektive Betrachtungsweise unmöglich gemacht. England wollte schon immer in Europa die Nummer I sein und bleiben. Die harte Behandlung Deutschlands war eigentlich eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Von den Ententemächten kam theoretisch und praktisch nichts. Deshalb erfolgte auch eine Annäherung an das neue Russland. Lenin soll einmal gesagt haben: Zwei Länder haben den ersten Weltkrieg verloren – Russland und Deutschland! Darüber hinaus aber ist auch jede juristische Behandlung dieser Frage illusorisch; denn Kriege haben in den seltensten Fallen rechtliche Ursachen, sondern wurzeln in den natürlichen, dynamischen Gegebenheiten und in der Unvernunft der Menschheit. Beide Werte aber lassen sich nicht verändern und sind seit Bestehen des Menschengeschlechtes absolut und konstant. Dazu kommt der Egoismus: ,,Ich will alles und ohne Rücksicht!" Nur Narren, Träumer und Religionsfanatiker glauben an den ,,guten" Menschen, der mit dem anderen teilen würde.

17. März 1942                               
Große Ereignisse werfen ihren Schatten voraus, süße Momente aber ziehen ihn oft noch lange hinter sich her. Die großen Ereignisse gehen den Boots-wachtmeister nichts an, aber die kleinen nächtlichen, die kommen auf ihn, die möchte er nun sortieren, sachlich einordnen, juristisch hinbiegen und steuerlich erfassen. Das gibt viel Schreiberei, Fragen und Sondieren und kostet manches Farbband. So fällt der schale Abglanz vergangener Liebe als Arbeit auch auf mich, und ich muß nun sehen, wie ich mit dem Bodensatz des Frühlings fertig werde. Was hilft es, daß man jetzt unter den Jungen ein moralisches Blutbad anrichtet. Was nützt es, wenn man sie beschwört, die ,,Schwebungslücke" nicht so genau zu nehmen und nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit ,,barfuß" im Paradies herumzutapsen. Die Frühbettkulturen bleiben. Indessen, geschehen ist geschehen, und Menschen machen ist immer noch besser als Menschen umbringen. Trotzdem wäre es natürlich kein Fehler, wenn wir uns in den gegenwärtigen Zeitläufen eine gewisse Beschränkung auferlegen würden. Man weiß ja nie, was uns noch bevorsteht, und was wollen wir dann mit fünf unehelichen Kindern; denn so viele Ein- tragungen weist unser Logbuch des Amüsements allein im letzten Jahre auf. Darnach ist in Kiel ein kleiner Maschinenmaat unterwegs. In Kolberg wieder reifen zwei Marineabsenker der Laufbahnen 2 und 9 dem Lichte entgegen, und in Hamburg und Kellenhusen wurden ebenfalls je ein kleiner Matrose auf Stapel gelegt. Das sind doch völlig unnötige Neuanschaffungen, noch dazu jetzt, wo die Produktion auf allen Gebieten zeitbedingt nicht solide ist. Aber das ist wohl wieder ein zu weites Feld. -

18. März 1942                               
Mit drei Mann dienstlich nach Kiel gefahren. Das war bei dem milden Wetter eine angenehme Unterbrechung des eintönigen Bordlebens. Auf den Feldern und Wiesen ist der Schnee im Wegtauen. Verheißungsvoll schaut überall die fruchtbare dunkle  Erde durch das zerschlissene, winterliche Schneegewand. Es wird langsam Frühjahr. Das wintermüde Herz atmet auf. Alles Hoffen und Freuen bricht aber sofort wieder in sich zusammen, sobald man in das zerbombte Kiel kommt und durch die zerstörten Straßen geht. Was hat alles Keimen, Blühen und Gedeihen für einen Sinn und Zweck, wenn es Nacht für Nacht wieder zerstört wird. Augenblicklich ist man in Kiel dabei, große Feuerlöschteiche anzu- legen und zwei mächtige Betonbunker Bild zu bauen. Ich kann mich indessen für diese Art der passiven Kriegsführung absolut nicht begeistern. Wenn man dem  Gegner nichts Besseres und Energischeres entgegen-zustellen weiß, dann soll man doch lieber den Kampf aufgeben. Es ist sinnlos und verbrecherisch, lediglich die Arme vor das Gesicht zu halten und sich dann zusammenschlagen und auspunkten zu lassen. Das kann man privat tun und von dem Einzelnen fordern. Ein Volk aber darf diesen Weg nicht beschreiten; denn der Einzelne ist immer zu ersetzen, ein Volk nie. -

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Seekrieg

19. März 1942                               
Die wenigen milden Tage haben genügt, um den Frühling auch bei uns ausbrechen zu lassen. Zwar schnellen an Oberdeck keine Himmelschlüssel, Veilchen und Krokusse empor, dafür aber feiert das ,,niedliche" Völkchen der Kakerlaken eine zahlreiche Auferstehung. Zugvögeln gleich verläßt es jetzt seine warmen Schlupfwinkel und schwärmt in das gelobte Land der Decks und Speiseschränke. Bald haben sich seine Stämme in jeden Raum eingenistet, und keine Ecke ist mehr vor ihnen sicher. Selbst hoch oben im Funkraum haben sie Quartier bezogen und leisten mir, besonders in den späten Abendstunden gern Gesellschaft. Sie schlüpfen aber auch in die abgehende Post oder kleben als Mumien vertrocknet zwischen den G-Büchern.
Am aufdringlichsten und fruchtbarsten aber gebärden sie sich in unseren Aufenthaltsräumen,  in der U-Messe und im Schlafraum. Sie sitzen auf unseren Tellern, verstecken sich im Brot oder hocken in solchen Scharen auf der Wurst, daß man glaubt, sie halten dort ihren Parteitag ab. Dann lesen sie mit uns Zeitung, nippen begeistert an den Bierresten und schlüpfen schließlich mit in unsere Kojen.
Natürlich haben wir ihnen erbitterten Kampf angesagt und sind stündlich und minütlich hinter ihnen her, besonders hinter den dicken und vollgefressenen, die auf den Namen Stabsgefrei-te hören. Aber was ist eine Handvoll Menschen gegen diese Hydra Insekt! Kein Wunder, wenn aus dieser Erkenntnis heraus die Kampfmethoden immer erbitterter und barbarischer werden. Wilhelm, der Wütige, geht ihnen nur noch mit Feuer zu Leibe. Er hält unter jede Kakerlake, die sich an den Wänden sehen läßt, ein brennendes Streichholz und freut sich, wenn es dann krematorienhaft knistert. Ossi wieder gießt über die auf der Back promenierenden Tierchen heißen Kaffe. Der zierliche Stift dagegen erschlägt die Kakerlaken in seinem Bannkreis einfach mit der Kaffeetasse.
Aber auch indirekte Methoden gelangen zur Anwendung. Der ,,sanfte" Ernst, der kein Blut sehen  kann, sperrt seine Opfer in eine Streichholzschachtel, wohingegen der räudige Rodewald für diese Zwecke lieber die Zigarettenschachteln und -etuis seiner Kameraden bevorzugt. Wie aber auch immer die einzelnen Abwehrmethoden sein mögen, die Tendenz ist immer die gleiche: Kampf den Kakerlaken.
Achtern scheinen sich ähnliche Kämpfe abzuspielen; denn als ich dem Kommandanten gestern abend einmal unsere Schreibmaschine zur Verfügung stellte und sie auf seinen Tisch setzte, fiel eine Kakerlake aus den Typen und rannte schnurstracks über den Tisch. Er sah sie natürlich auch laufen und fragte anzüglich: ,,Haben sie die Kakerlake mitgebracht?" Ich antwortete nur: ,,Nein, hier hat jeder seine eigenen. Außerdem sind unsere nicht so dreist."
So hat denn jeder seine Sorgen. Wir natürlich die doppelten; denn einmal müssen wir unsere Kakerlaken abwehren und außerdem noch die Anzüglichkeiten der Vorgesetzten.

20. März 1942                               
Unser Stift scheint dienstlich auch nicht ganz ausgelastet zu sein; denn gestern hat er den ganzen Tag über einem Stoß alter illustrierter Zeitungen gebrütet. Dann hat er dies und jenes, was ihm gerade passend erschien, aus seiner Lektüre herausgeschnitten und im Schlafraum an unsere Spinde geklebt. Abends gab es dann natürlich großes Hallo, als jeder an seinem Schrank eine anzügliche Beschriftung vorfand.
An Ossis Schranktür stand der Spruch: ,,Urahne, Großmuter, Mutter und – wo bleibt das Kind?" An Wilhelms Tür klebte ein Inserat für ,,wasserundurchlässige Windelhosen". Beim Kameraden Fips wieder konnte man lesen: ,,Auf Abwegen" und am Spind von Rodewald, Hans ,,Promenadenköter Müllschnut". Damit hatten auch unsere beiden eifrigsten Promena-denhengste ihren Knochen, an dem sie knappern konnten. Treffend war auch unser Gaudi als ,,Der unheimliche Schatten" deklariert.
So hatte jeder seinen Brocken und selbst mich hatte der Stift nicht verschont. ,,Papa Butenschön" las ich an meinem Spind. Nun, Rache ist süß, und unser Stift wird von Glück reden können, wenn er diesmal nicht gelyncht wird.

21. März 1942                               
Die Post ist da! Eine Karte von den Eltern und ein Brief von Gertrud. Dafür hat Gertrud um so mehr Krankheitsberichte geschrieben. Ein älterer Kamerad vom Vorpostenboot sagte einmal zu mir: ,, Nie leide ich schwerer unter dem Krieg, als wenn ich die Briefe von daheim lese." Manchmal ist es wirklich so.

22. März 1942                               
Die Sonne scheint. Wolkenlos strahlt der Himmel in seinem lichtesten Blau. Aus dem Hafen ist das Eis abgewandert. Es scheint Frühling zu werden.
Zur Feier des Tages wollte ich einen ausgedehnten Sonntagnachmittagsspaziergang durch die vom Eis und Schnee befreite Landschaft unternehmen. Bald ist alles von Bord. Nur ein paar Mann Wache bleiben noch zurück. Diese sind gerade dabei, ihren Kummer in einem Kasten extra starken Exportbier zu ertränken. In der Absicht, sie zu trösten, setze ich mich einige Augenblicke zu ihnen. Leider aber wurden die kurzen Augenblicke so lang, daß ich Mühe hatte, wenigstens gegen 19 Uhr noch zu einem kurzen Abendbummel zu starten.
In der Stadt sind alle Lokale überfüllt. Nirgends kann man Boden gewinnen. Bald bin ich wieder an Bord. Hier ist unterdessen auch Ruhe eingetreten. Die Wache hat sich niedergelegt und schläft den Schlaf der Gerechten. Es muß sehr schnell gegangen sein; denn noch stehen die drei großen Exportbier-kisten a 72 Flaschen leer auf der Back. Da ist dann die genü-gende Bettschwere sehr bald vorhanden gewesen. Und einer nach dem anderen sang- und klaglos umgekippt. Man kennt das. Wache an Bord war von jeher eine sehr aufreibende An-gelegenheit, auch auf M 575.

23. März 1942                               
Das schöne Wetter hält an. Das hat auch der Tommy gemerkt, und so gab es dann gegen 14 Uhr einen kurzen Fliegeralarm. Zu sehen war aber nichts. Es wird wohl nur ein Aufklärer gewesen sein, der nachsehen wollte, was wir machen.
Abends ist das schöne Wetter allerdings vorbei. Kalt ist es wieder und in der Luft hängt ein Nebel, der kaum 20 m Sicht zuläßt. Uns ist auch das recht.
Heute wollten wir eigentlich nach Kiel abdampfen. Wollten, aber im Kanal und in Brunsbüttel herrscht noch der Winter mit viel Eis und Schnee. Ein Durchkommen ist beim besten Willen nicht möglich. Bleiben wir also noch eine Zeit hier. Zum Aushalten ist es. Der Dienst ist auch erträglich und für die freien Abende ist Hamburg das einzig gegebene.

24. März 1942                               
Das naßkalte, neblige Wetter hält an. Das Hafenbecken ist wieder über und über mit Eis-schollen bedeckt, und aus Rußland meldet der Wehrmachts-bericht eine Kälte von  - 20 bis - 25° C. Es will dieses Jahr kein Frühling werden. Möcht´ nicht wissen, was uns allein dieser Winter an Menschen und Leid gekostet hat!

25. März 1942                               
Morgen kann ich wieder nach Kiel fahren. Eben hat mir der Kommandant detailliert, was alles zu erledigen ist und worauf es ihm im Besonderen ankommt.
Anschließend habe ich ihm dann auseinandergesetzt, daß ich daheim auch viel zu erledigen hätte und außerdem zur Erhaltung meiner Kampfmoral unbedingt ein paar Tage Heimaturlaub benötige. Davon aber, und das liegt in seiner Natur, war er in keiner Weise erbaut. Die Folge war ein erbittertes Argumentieren. Grund und Gegengrund, These und Antithese prallten aufeinander.
Auf so erbitterten Widerstand nicht gefaßt, gab er schließlich nach, zumal ich mich auch durch autoritäre Rhetorik nicht davon überzeugen ließ, daß unser augenblicklicher Kampfeinsatz hier in Hamburg so kriegsentscheidend und weltbewegend sei, daß sich eine absolute Urlaubssperre rechtfertigen ließe. Außerdem steht mir ja auch der doppelte Urlaub zu; denn einmal muß ich mich in meiner Eigenschaft als Funkmaat erholen und zum anderen als Wachtmeister. Es hat eben alles seine Sonnen- und Schattenseite. Am Sonntag fahre ich.   

26. März 1942                               
War befehlgemäß wieder in Kiel. Wenn die Boote einer Flottille nicht beisammen liegen, gibt es eben immer Lauferei und Schreiberei. Da ist dies und das zu regeln. Verpflegungspapiere sind auszutauschen, Waschmittel zu besorgen, Bekleidungssorgen abzuwälzen, Unterschrif-ten einzuhandeln, Grüße zu bestellen und so fort. Es gibt ja so viele Dinge, die man einem Bootswachtmeister aufhalsen kann.
Je öfter man aber von Hamburg nach Kiel kommt, desto krasser fühlt man den Unterschied zwischen den Menschen hier und den Menschen dort. Der Hamburger ist trotz seines starken intentionalen Einschlags ein durchaus freudiger und lebensbejahender Menschenschlag. Dem Kieler dagegen fehlt jede gesellschaftliche Affinität. Man wird infolgedessen auch nie warm in ehemals roten Kiel und kommt sich manchmal nur wie geduldet vor.
Diesen Eindruck gewinnt man eigentlich schon am ersten Tage; denn wenn man als Frem-der nach Kiel kommt und sich etwa nach einem Stadtteil oder einer Straße erkundigt, so bekommt man nur flüchtige und manchmal nur unwillige Antworten. Stellt man dagegen in Hamburg die gleiche Frage, so bleiben nicht nur der Angesprochene, sondern auch noch zwei oder drei Vorübergehende stehen und klären den Fragesteller in der bereitwilligsten Weise und freundlich über die Örtlichkeit auf. Dieses Mitgehen, diese gesellschaftliche Aufgeschlossenheit fehlt in Kiel. Stets atmet man eine frostige Atmos-phäre. Fast möchte ich sagen, selbst die Menschen im besetzten Holland und Belgien waren aufgeschlossener, freundlicher und mitteilsamer
Ich habe mich lange gegen diese Erkenntnis gewehrt und nach Gründen und Entschuldigungen gesucht, konnte aber zu keinem positiven Ergebnis gelangen, trotz aller Ehrfurcht vor der schwergeprüften Stadt und der grenzenlosen Hochachtung, die jeder Deutsche Kiel schuldig ist.In der Absicht, nicht nur meine eigenen Eindrücke gelten und keine autarke Einstellung aufkommen zu lassen, befragte ich verschiedene Kameraden nach ihrer Ansicht. Sie waren ausnahmslos meiner Meinung. Ich besinne mich auch noch gut auf zwei besonders typische Antworten. Die eine lautete: ,,Kiel ist ein Dorf mit einer Straßenbahn!" Und unser alter Bootsmann, selbst ein Kieler Kind, sprach: ,,Der Kieler kann sich selbst nicht leiden."
Nun ist mir auch erklärlich, warum der Hamburger sein allgegenwärtiges ,,Hummel, Hummel" hat und im tristen Kiel zur Belebung der Matrosen der ,,Bäcker aus Laboe" benötigt wird.

28. März 1942                               
Sonnabend, wieder einmal Wochenende. Da unternehmen die englischen Flieger gern einen Ausflug. Kurz nach 23 Uhr setzen dann auch programmgemäß die Sirenen ein. Wolkenlos ist der Himmel, klar die Sicht und ein aufdringlicher Mond leuchtet dazu noch überflüssigerweise mit seiner Laterne. Kaum heben sich auf diesem fahlen Hintergrund die weißen Bänder der Scheinwerfer ab. Die Flak schießt Sperrfeuer. Dumpf und hoch setzt sie ihre Feuerbälle in die Nacht. Flink und kläffend streut die leichte ,,Zwo-Zentimeter" ihre leuchtenden Punkte in bizarren Kurven über das Hafenbecken. Zu sehen ist nichts, aber deutlich ist das Brum-men über uns zu vernehmen.
Plötzlich steht für wenige Augenblicke eine grelle Stichflamme am Himmel. Hat unsere Flak getroffen? Noch einmal flackert es kurz auf und verglüht dann langsam. Nein, das war kein feindliches Flugzeug. Nur ein armer Sperrballon hat da oben sein Leben ausgehaucht.
Noch immer tasten die Scheinwerfer den nächtlichen Himmel ab. Da, endlich ist ein feindliches Flugzeug gefaßt! Es steht genau über uns. Das Abwehr- feuer konzentriert sich. Pfeifend rauschen die Flaksplitter nieder, klirren an Deck, kratzen auf den Dächern und hopsen schlürfend über die Straße. Wir suchen Schutz unter den Aufbauten.
Klack, klack, klack! Wie Kuhfladen klatscht etwas auf den gegenüberliegenden Kai. Brandbomben! ,,Es brennt! Kommt löschen!" erschallt bald darauf auch bei uns der Ruf der Sicherheitswache. Auch auf unserem Kai sind Brandbomben niedergegangen. Etwa hundert Meter entfernt zischt und sprüht es hell auf. Im Laufschritt geht es hin.
Vom Turm des Lagergebäudes, das die lange Reihe der Verladeschuppen abschließt und mit leichter Flak besetzt ist, ertönen jetzt Jubelrufe. Wir wissen, was sie zu bedeuten haben. Ein Flugzeug ist abgeschossen.
Vorsichtig nähern wir uns unterdessen den Brandbomben. Es sind etwa 10 Stück. Sie sprit-zen uns noch zu sehr und sollen neuerdings zusätzlich eine Sprengladung gegen die Löschmannschaft enthalten. Wir verhalten deshalb noch einige Augenblicke. Eine direkte Brandgefahr besteht ja nicht. Sie sind zum größten Teil auf die Straße und zwischen abgestellten Güterzügen auf die Gleise gefallen. Schließlich gehen wir ihnen doch zu Leibe und widerwillig ersticken sie unter Schaufeln von Erde und Sand.
Es war auch Zeit; denn schon wieder nähert sich das unheimliche Brummen. Die Flak schießt auch. Scheinwerfer hasten. Immerhin, das Brummen kommt mir irgendwie vertraut vor. Ich vermisse das stoßweise Seufzen der englischen Bomber. Da, jetzt haben die Scheinwerfer das Flugzeug erfaßt. Von allen Seiten blitzt die Abwehr auf. Jetzt flammt auch am Flugzeug Feuer auf. Nein, es ist nicht getroffen. Das flammende Rot ist das Erkennungssignal. Die Flak verstummt, aber die langen Arme der Werfer lassen noch nicht locker. Da, noch einmal rotes Licht, fächerförmig fällt es auseinander. Nun ist kein Zweifel mehr. Es ist einer von unseren Nachtjägern. Das hätte dumm ausgehen können.
Nun ist es schon eine ganze Stunde lang ruhig geblieben. Entwarnung ist zwar noch keine gegeben, aber ich glaube, ich kann die Koje wieder aufsuchen. Kalt und ungemütlich ist es auch geworden. Beginnen wir also ruhig mit dem Matratzenhorchdienst. Es ist mittlerweile 3 Uhr geworden. -

29. März 1942                            
Hamburg - Dresden
Ich bin noch recht müde. Die Nacht war aber auch reichlich kurz. Immerhin, es ist Zeit, daß ich aufstehe, mich schön mache und den Koffer packe. Ich will doch schnell noch einmal auf fünf Tage nach Hause fahren. 17.27 Uhr fährt mein Zug. Bis dahin aber ist noch viel zu erle-digen. Zunächst muß ich meinem braven Zippel und meine beiden ,,Funkriche" über ihr Soll informieren, damit die Produktion weiterhin programm- und fristgemäß abrollt. Der Kommandant wird ebenfalls noch mit ein paar unzeitgemäßen Wünschen vorsprechen und dabei werden die paar Stunden nur zu schnell vergehen. Irgendwie aber werde ich es schon schaf-fen. Den Zug verpasse ich auf keinen Fall!
16 Uhr. Endlich ist es so weit, daß ich die Eisen zeigen kann. Abmelden – Fähre – Zoll – Straßenbahn – Bahnhof! Fast hätte ich ihn gar nicht gefunden, so gut hat man ihn jetzt unter Tarnnetzen, Farbe und Geländekulisse versteckt.
Schön ist es heute. Die Sonne scheint. Es ist der erste warme Frühjahrsonntag. Und man fährt auf Urlaub. Man kann es selbst noch gar nicht glauben. Es kommt einem alles so unwirklich vor. Es läßt sich auch schwer beschreiben. Es ist so, als würde die Uniform alles Beengende verlieren und auf einmal immer leichter und weiter. Wenn doch einmal der Tag käme, an dem sie ganz abfiele!
Den Mann mit der roten Mütze auf dem Bahnsteig  habe ich nicht umarmt, als er das Signal zur Abfahrt gab, obwohl das starke Bedürfnis vorlag. Man soll seine Gefühle nicht öffentlich zur Schau tragen. Nein, das mache ich auch nicht. –
Draußen vor dem Fenster fliegt die Stadt vorbei. Hohe Häuser, Hoch- und Straßenbahnen, Straßen und Menschen gleiten vorüber. Mein Abteil ist wenig besetzt, nur zwei Frauen und ein Zivilist haben außer mir noch Platz genommen. Sie kommen von Kiel und berichten, daß die Strecke infolge des gestrigen Fliegerangriffs teilweise gesperrt war, und in der letzten Nacht Lübeck das Ziel der feindlichen Bomber gewesen ist. Die Stadt habe schwer gelitten. Wie soll das noch enden?
Unser Zug hat sein Tempo noch beschleunigt. Mit A.K. braust er jetzt durch die schöne deutsche Landschaft. Holpernd und polternd rattert er über die Gleisanlagen kleinerer Bahnhöfe. Ab und zu kommt uns auch ein Zug entgegen. In der Hauptsache sind es Militärtransporte und Güterzüge. Die Kesselwagen sind meist mit Tarnnetzen verkleidet und sollen auf diese Weise ihren gefährlichen Charakter verbergen. Schier endlos sind die Züge. Nur selten huscht dazwischen der Schatten eines Personenzuges vorüber. Deutschland stellt seine Armeen zur Frühjahrsoffensive bereit. Hier und da  begegnet man auf größeren Bahnhöfen auch der Eisenbahnflak.
Langsam versinkt im Dämmer der einbrechenden Nacht das Draußen. Vorsichtig glimmt dafür im Abteil das blaue, gedämpfte Licht auf. Zum Lesen ist es zu düster, aber ausnützen muß man die Zeit. Will sehen, daß ich einen Arm voll Schlaf nehmen kann.

30. März 1942  Dresden
Nun habe ich doch fest geschlafen, wie gut, und in einer kleinen halben Stunde bin ich daheim. Es geht auf 4 Uhr morgens. Ob die Straßenbahnen schon fahren, oder ob ich erst noch lange warten muß?
Ja, es geht alles glatt vonstatten und um 5 Uhr bin ich zu Haus. Mutti schnellt aus den Federn. Sie hat meine Karte noch rechtzeitig erhalten. Die Buden sitzen aufrecht im Bett und freuen sich. Der Vati ist wieder einmal da! 

1. April 1942                                 
Es gibt viel zu tun, überall, in der Wohnung, im Grundstück und im Garten. Wo soll man zuerst abfangen? Ich glaube, ich brauche ein Jahr dazu, ehe alles wieder so ist, wie es sein soll, und wie ich es gern haben möchte. Im Garten läßt sich noch nicht viel machen. Der Boden ist noch gefroren, und ich hatte mich gerade auf diese Arbeit so gefreut. Wenn man immer nur Wasser um sich hat, bekommt man Sehnsucht nach dem Spaten und einen förmlichen Heißhunger nach Erde. Aber wer hungert heutzutage nicht? Wer ist überhaupt noch satt, befriedigt in sich und seinen Lebensbedürfnissen? Wir hungern doch alle nach Frieden, nach unserer Familie, nach Heimat, nach Sonne, nach etwas Ruhe und Stetigkeit. Man kann den Hunger auch übergehen, aber man soll dabei nicht vergessen, daß Hunger nicht nur ein körperliches und seelisches Unlustgefühl ist, sondern vor allen Dingen ein bestimmender Faktor im Ablauf des geschichtlichen Geschehens. Er darf als Minuskomponente nicht zu groß werden.
Fünf Tage Urlaub! Es ist herzlich wenig, ein Tropfen auf den heißen Stein. Fünf Tage wären schon nötig, um allein das Spielzeug zu reparieren. Fünf Tage. Was sind fünf Tage? – Nichts!

2. April 1942 Dresden
Vom Boot trifft ein Telegramm ein: ,,Rückkehr nach Kiel." Da haben es die Kameraden also nicht mehr länger in Hamburg ausgehalten und sind für die Feiertage nach Kiel abgedampft. Nun kann ich meinem Boot wieder hinterherfahren. Das war eigentlich jetzt immer so. Im Oktober rannte ich ihm nach Kolberg hinterher, im Januar nach Hamburg und jetzt wieder nach Kiel. Unstet und flüchtig ist so eine Flottille. –

3. April 1942 – Karfreitag Dresden – Hamburg                  
15.13 Uhr fährt der Zug. Schade, daß ich nicht noch das Osterfest zu Hause verbringen kann, aber es soll nun einmal nicht sein, und ich bin schon froh, daß ich wenigstens kurz einmal nach dem Rechten sehen konnte. Der D-Zug Dresden-Hamburg ist wenig besetzt. Die Reisesperre wirkt Wunder. Ab Halle habe ich ein ganzes Abteil für mich alleine. Ich nütz-te wieder die Zeit, lege mich lang und schlafe. Nach dem Urlaub ist man meist sehr müde.

4.   Wieder in Kiel

4. April 1942   Hamburg – Kiel                        
Nun ist es schon Sonnabend geworden und ich bin erst in Hamburg, aber kurz nach Mitter-nacht trifft der Anschlußzug ein. Es ist ein SF-Zug, der aus Brest kommt. Im Abteil sitzen ein paar Kameraden, die den britischen Landungsversuch in St. Nazaire miterlebt haben. Sie berichten, 500 Mann seien gelandet worden, bestens ausgerüstete Soldaten und alle seien mit Sprengstoffpäckchen versehen gewesen. Die Hafen- und Schleusenanlagen sollten zerstört werden. Das Landungsunternehmen kostete vielen der Kämpfer das Leben. Über die Schäden schweigen sie befehlsgemäß.
In der vorigen Nacht sei der Urlauberzug in Frankreich von englischen Fliegern angegriffen worden, aber ebenfalls ohne allen Erfolg. Um sich nicht durch Funkenflug zu verraten, habe er in einem Waldstück angehalten und sei erst nach Beendigung der Luftgefahr weitergefahren. So habe er denn die vielen Urlauber auch glücklich ins Reich gebracht.
02.15 Uhr kommen wir in Kiel an. Jetzt folgt ein einstündiger Marsch bis zum Scheerhafen, aber auch das wird geschafft und nach einem ausgiebigen Nachtmahl verbleiben auch noch drei Stunden Zeit zu einem kurzen Schlaf.
08.00 Uhr ist seeklar. Seeklar ist ja nun etwas übertrieben; denn wir fahren nur zum Sperrzeugamt, Gerät übernehmen und drehen uns dann zum Kompensieren ein paarmal um die eigene Achse.
An Bord ist noch alles beim alten. Am 1. April früh hat unsere Flottille Hamburg verlassen, in Brunsbüttel ihre Schleifen gezogen und ist dann durch den Kanal gedampft, der nur noch stellenweise etwas vereist war. Um 21 Uhr stand das Boot dann wieder angebunden in seinem alten Stall im Schatten der Sperrschule und wedelte mit dem Schwanze, oder besser gesagt mit der Schraube.
Die Kameraden haben wenig Zeit. Sie machen sich landklar und wollen über die Osterfeiertage in Dispens. Die meisten fahren nach Hamburg. Dort hat ja nunmehr fast jeder eine ,,Braut", und Ernst geht allen Ernstes daran, eine Ehe daraus zu machen.


RonnyM

Danke lieber Jürgen. Jetzt weis ich sogar, dass am 22.03.42 die Sonne schien, denn "nebenan" in Pinneberg hatte meine Frau "die Welt betreten". :lol: :O/Y

Grüße Ronny
...keen Tähn im Muul,
over La Paloma fleuten...

Seekrieg

5. April 1942 - 1. Osterfeiertag
Ostersonntag – Fest der Auferstehung? - Das ist ja alles so unsinnig. Wichtig ist allein, daß der Osterhase schwimmen kann, den Weg zu uns gefunden und jedem zum Frühstück zwei gekochte Eier auf die Back gelegt hat. Ein Kamerad griff dann dem Osterhasen noch etwas unter die Arme und holte aus der Last ein paar Flaschen von dem brennenden Zeug. So kann man mit etwas Betäubung das Fest wohl überstehen.
Daß wir nebenbei noch Wachboot sind, tut dem Feiern keinen Abbruch. Draußen regnet es. Nach Tisch nehmen wir dann noch die üblichen zwei Stunden Mittagsschlaf in Anspruch. Sie gehören nun einmal mit zum Sonntag, und schließlich verpassen wir auch nichts. Die Zeit arbeitet ja für uns. So lautet wenigstens die neuste strategische Devise.
Den Nachmittag widme ich dann der Beantwortung der während des Urlaubs eingegangenen Dienstpost und ziehe mich deshalb in die beschauliche Stille meiner Funkbude zurück. Vorläufig ist aber von Ruhe noch nichts zu verspüren; denn erstens ist auf der Brücke wieder einmal Tumult und zweitens riecht es verdammt nach Schwarzkocherei. Das muß ich doch einmal untersuchen. Als Soldat bin ich ja immer im Dienst und dazu berechtigt und als Unter-offizier außerdem noch das disziplinelle Rückgrat der Truppe. Der Kommandant soll merken, daß ich eine starke, dienstliche Wirbelsäule bin. Also stapfe ich die Brücke vor zum Ruderhaus. Hier ist aber vor Phrasen und Bratennebeln nichts zu sehen. Erst ein kurzer Frischluftdurchzug schafft klare Sicht. Ein Schatten drängt sich heran und will Meldung machen. Ich winke ab, weiß ohnehin, wie sie lautet: ,,Sechs Mann bei der Freizeitgestaltung" oder ,,Brücke beim Bestreben, dem Krieg seine Herbheit zu nehmen."
Wer hat sich denn nun alles hier breitgemacht, meine zwei Funkriche, die Ohren der Flottille, zwei Signalgäste und zwei Rudergänger. Den ruhenden Punkt in der Raucherscheinung bildet ein Spirituskocher mit einem Tiegel, in dem Speck spuckt und Rühreier um ihre genießbare Form ringen. Daneben hocken, die Spirituskanne in der Hand, meine zwei Gasten. Sie betätigen sich heute als Heizer. Strahlenförmig haben sich ihre Kameraden um diesen Mittelpunkt gelagert. Die an Deck ausgebreiteten Wachtmäntel ermöglichen ein bequemes und langes Liegen. Ein Brot geht von Hand zu Hand und wird zusehends kürzer. Neben dem Maschinentelegraf steht ein Kasten Dortmunder Exportbier. Er ist schon stark gelichtet. Auf dem Kompaß ruhen, wie auf einer Anrichte, Speck und Butter. Das Braten geht am laufenden Band, und zwischen jeder Runde bleibt gerade noch Zeit zu einer Flasche Naß und einer Zigarette voll Rauch. Matrosen verstehen auch zu biwakieren. –
Es ist Mitternacht geworden. Meine Korrespondenz habe ich erledigt, und nun könnte man sich eigentlich langsam zur Ruhe begeben. Im U-Raum sind aber noch zwei Kameraden wach. Die langen noch zu einer kleinen Unterhaltung. Sie haben den Nachmittag auch nicht müßig zugebracht, sondern aus Zeitungen und Zeitschriften sinnige und anzügliche Sprüchlein herausgeschnitten und wieder an die Spinde geklebt. Nun führen sie mich hin und bitten um meiner Stellungnahme.
Ich lese: ,,Nimm Darmol, du fühlst dich wohl!" Es gilt unserem Stift, und der Anlaß dazu bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Mit den Worten: ,,Bewährungsprobe bestanden", wird Ernst die Ehetauglichkeit auch von uns aus zugebilligt. Auch an den anderen Spinden kleben anzügliche und doppelsinnige Zeitungsausschnitte, und jeder Kamerad war mehr oder weniger kritisch und bissig unter die Lupe genommen worden. Nur an meinem Spind klebte diesmal nichts. Vielleicht bin ich ihnen zu farblos, zu neutral oder seelisch zu gut getarnt.

6. April 1942 - 2. Osterfeiertag                        
Heute scheint die Sonne. Ich will ihr entgegengehen und starte gegen 15 Uhr zu meinem Osterspaziergang. Ganz allein, besinnlich und nur in der leichten Gesellschaft loser Gedanken, schlendere ich durch das Kasernenviertel und nehme dann Kurs auf die Peripherie der Stadt, dorthin, wo die Straßen sich aufzulockern beginnen und Häuser und Gärten übergehen in die Wiesen und Felder.
Das schöne Wetter hat viele Spaziergänger ins Freie gelockt. Sie alle suchen den Frühling und das neue Leben in der Natur. Aber noch ist es nicht so weit, noch kann man nicht in Goethes befreiendes ,,Vom Eise befreit sind Strom und Bäche" einstimmen. Verbissen und zäh halten sich auf den Lösch-wasserteichen noch immer die schmutzigen Eisschollen, und mit den als Blumenersatz gepriesenen ,,geputzten Menschen" ist es auch nicht weit her. Über ihnen liegt der Reif der Kleiderkarte.
Trotzdem fehlt es nicht an Leben und Bewegung. Es ist die Flaksicherung, die dem Randgebiet der Stadt ihren Stempel aufdrückt. Flach und monoton ziehen sich durchs wollige Gelände die Baracken der Flaksoldaten.  Aus den geöffneten Fenstern tönen die Lautsprecher der Radios. Hoch oben am Himmel übernimmt eine Lerche die zweite Stimme dazu und überbietet sich in jubelnden Koleraturen.
Auf der sanft ansteigenden Anhöhe hat schwere Flak Stellung bezogen. Ein paar großäugige Scheinwerfer leisten ihr Gesellschaft. Blind und mit niedergeschlagenen Lidern starren sie jetzt vor sich hin. Auch in den Horchständen, aus denen krumm und gewunden die langen Ohren der Apparate hervorschauen, herrscht tiefe Feiertagsruhe. In der anschließenden flachen Talsenke hockt träge ein feister Sperrballon. Fettig glänzt sein praller Leib im Sonnenlicht, während seine faltigen und runzligen Hecksteuerlappen mißmutig im leichten Winde schlackern. An den Wegkreuzungen stehen die Nebel-tonnen. Sie halten die grauen Schleier für die nächsten Fliegerangriffe bereit.
Auf den lehmigen Feldern sprießt spärlich grüne Saat. Die Wiesen am Hange verharren gar noch in nachwinterlichem Grau. Frische Maulwurfshügel und braune Bombentrichter entstellen zudem wie Pockennarben allenthalben das stille Antlitz der Natur.
Enttäuscht schweift das Auge über die Fluren. Nirgends findet der suchende Blick die ersehnte Ruhe, das Herz die stille Eintracht des Friedens. Wohin man sich auch immer wendet, dem Krieg kann man nicht den Rücken kehren. Vergebens ist jeder Schritt. Niemand kann der Gegenwart entfliehen. Kein Weg führt aus der Zeit.
Irgendwo hat ich einmal gelesen: ,,Die Faust muß man der Zeit entgegenhalten. Nur so läßt sie sich neu gestalten." Vielleicht liegt hier die Erlösung. Vielleicht. –

7. April 1942                                 
Nun geht es wieder rund. 6 Uhr wecken. 07.30 Uhr Vollzähligkeitsmusterung. 07.55 Uhr Telefon abschlagen. 08.00 Uhr Station klar melden. Wie schön das ist, wieder einmal zu fahren. Seit dem dritten Weihnachtsfeiertag hat es nicht mehr geschaukelt, und jetzt ist schon wieder Ostern vorbei. Rückwärts lösen wir uns von der Pier. Dann führen wir eine Vierteldrehung aus, scheren in die Kiellinie ein und plätschern im Gänsemarsch vorwärts. Voran stapft das Führerboot M 502. Dann folgen wir und den Schluß macht ein auf neu aufgetakelter alter M-Bock, der uns zur Hilfeleistung zugeteilt worden ist, damit wir wenigstens mit drei Booten fahren können. Es geht wieder die Förde entlang. Der Flakkreuzer kommt in Sicht. Das Feuerschiff wird passiert, und dann sind wir wieder draußen. Das Wetter ist aprilhaft, mischt Sonnenschein und Regen und bringt wie das Rundfunkmontagabendprogramm für jeden etwas. Die See ist glatt und wird nur belebt von Eisschollen, die teils vereinzelt, teils in größeren Feldern dem Winter nachschwimmen. Grell gleißt das Sonnen- licht darauf. Ihre Tage sind gezählt. 

8. April 1942                                  
Nun gleicht wieder ein Tag dem anderen. Überschrift: Fahrten für die Schule. Ich sitze auf der Welle und lasse mir erzählen. Im Großen und Ganzen ist alles noch beim alten. Die Wachtschiffe halten ihre Position, die Sperrbrecher passen auf, daß ihren Trabanten nichts passiert und sonst quirlt nur noch dann und wann einmal ein Geleitzug die See. Mehr Leben scheint indessen in der östlichen Ostsee zu herrschen. Die Antenne erzählt von großen Eisfeldern, von Packeis und Eispressungen. Dort wühlt jetzt der Eisbrecher ,,Castor" und will seinem Geleitzug einen Weg bahnen. Die Eisbrecher ,,Elbe" und ,,Eisbär" aber, die mit von der Partie sind, haben vorläufig den Kampf aufgeben müssen. Die ,,Elbe" hat sich alle Schraubenflügel abgebrochen und muß nun, da sie sich mit der nackten Schraubenwelle nicht fortbewegen kann, von der ,,Ostpreußen" in Schlepp genommen werden. Der ,,Eisbär" wieder hat Ruderschaden und muß auf See anfangen, zu flicken. Es mag sehr schwer sein,  sich durch diese kompakten Eismassen hindurchzuzwängen, aber der Geleitzug soll pünktlich in Libau eintreffen. -
23.30 Uhr Fliegeralarm! Zehn Minuten später ist Kiel im Nebel verschwunden. Er ist so dicht, daß man vom Nachbarboot kaum noch einen Schatten sieht. Es brummt. Sie sind da. Die Flak schließt nach ihren Horchgeräten. Kein Scheinwerfer ist zu sehen, kein Mündungsfeuer, nur die explodierenden Granaten verursachen einen matten roten Schimmer im Nebelgrau der Nacht.
Gegen 1 Uhr läßt das künstliche Wetter wieder nach. Hier und da guckt schon ein vorwitziger Stern hervor. Es müßte zur Not noch einmal etwas auf- gedreht werden, aber da erfolgt bereits kurz nach 2 Uhr die Entwarnung. Der Tommy hat uns nicht gefunden. Eine neue Kampfmethode, aber auch sie hat ihr Für und Wider. Das Für bestätigt die Regel, daß man dem Gegner am besten mit der gleichen Waffe begegnet, also dem unsichtbaren Flieger das unsichtbare Ziel entgegensetzt. Dem steht aber der große Nachteil gegenüber, daß bei dieser Kampfesweise der Feind selbst nicht unschädlich gemacht wird. Er wird mithin seine Bombenlast, die er uns zugedacht hatte, über einer anderen Stadt abladen; denn bei der Tiefe des Kampfraumes ist es unmöglich, halb Deutschland zu vernebeln. Nun mag diese Verschiebung der Kriegsschauplätze mitunter taktische Vorteile erbringen, trotzdem bleibt sie letzten Endes nur ein Austauschverfahren, ein billiges militärisches Feilschen. Damit aber läßt sich kein Krieg gewinnen.

9. April 1942                                  
Schulfahrt. Thema: Legen und Räumen von Sperren, Wasserbombenwerfen und –  Fischen. 18.15 Uhr liegen wir wieder fest. Anschließend ist Rapport. Es war lange keiner. Hermann Rodewald ist der Leidtragende. Er war über die Osterfeiertage an Land geblieben und hatte nur mittags zum Essen kurz vor- gesprochen. Nach der letzten Nachtschicht hat ihn dann der neu zukommandierte Obermaschinist Vossen gegriffen. Nun sind acht Tage ,,geschärfter" fällig. Wenn man allerdings Hermanns Nachtbummel im letzten Jahr zusammenzählt, so kommen pro Nacht und Vergnügen höchstens ein halber Tag Arrest. Das aber ist nicht zu viel, und mit dieser Quersumme kann er wohl zufrieden sein.

10. April 1942                               
Den ganzen Tag über wieder Schulfahrt. Das Wetter ist garstig. Das Seine-Tief hat die Linie Koblenz - Kiel – Kopenhagen erreicht. Regen und Kälte ringen um die Oberhand. Man merkt nichts mehr vom Frühling.

11. April 1942                               
Im Hafen. Es gibt viel zu tun. Wenn man die ganze Woche fährt, dann drängen sich alle anderen Arbeiten auf den einem Tag im Hafen zusammen. Um 8 Uhr starte ich mit drei Mann. Zuerst werden drei Seesäcke besohlter Stiefel abgeholt und in die Pinasse verfrachtet, die uns an der Elisabethbrücke erwartet. Dann geht es per Boot weiter. Im Arsenal holen wir einen Sack Seife und eine Kiste Seifenpulver. Danach gondeln wir zum Sperrzeugamt und nehmen Sprenggreifer und Bojen am Bord. Zuletzt steuern wir noch das Verpflegungs-Amt an und lassen 20 Kisten Tücher mitgehen. Vollgeladen bis an den Rand kehren wir gegen 11.30 Uhr wieder zu unserem Boot zurück. Durchgefroren sind wir auch.

12. April 1942                               
Ausnahmsweise strahlt zum Sonntag einmal die Sonne. Das Witterungstief scheint vorüber zu sein. Also ist ein kleiner Spaziergang fällig. In der  Nacht zum Montag ist 00.45 Uhr wieder Fliegeralarm. Er erweist sich aber als blinder Alarm; denn die Flugzeuggeräusche an der Schleimündung scheinen von eigenen Flugzeugen herzurühren. So meldet wenigstens das U.K.(W) Die feindlichen Flugzeuge dagegen stehen an der Westküste. So kam denn auch bald Entwarnung und wir konnten wieder schlafen gehen.

13. April 1942 Kiel                              
Um 8 Uhr ist seeklar und dann fahren wir wieder hinaus. Es geht nichts über einen geregelten Seeverkehr! Draußen weht ein kalter Ost 5 - 6. In Nord- skandinavien und Finnland hat sich ein 1030-Hoch gebildet und drückt nun mit seiner ganzen Schwere und Kälte auf uns. Gegen 14 Uhr kommt dazu noch Nebel auf. Wir müssen unser Fahren abbrechen, gehen auf zweimal langsame und tasten uns vorsichtig durchs Gelände zurück.

14. April 1942 Kiel                              
Derselbe Törn. Zur Abwechslung abends von 18 bis 21 Uhr Kohlen. Fein ist das!

15. April 1942                                 
Wieder Schulfahrt. Ruhige See, schönes Wetter. Es ist eine Lust, zur See zu fahren. Das scheinen auch unsere Kakerlaken zu verspüren; denn sie feiern eine Auferstehung, die nicht mehr zu überbieten ist. So sehr wir aber auch mit Feuer und Schwert, mit Kaffee und Tassen gegen sie zu Felde ziehen, es werden ihrer nicht weniger. Schließlich entgleist man mit seinen Kampfmethoden nur noch ins Sadistische und macht sich obendrein noch lächerlich. Wie schnell das geschehen kann, beweist ein Gedicht, das Kamerad O.K. der Marine-Front-Zeitung zur Veröffentlichung zugeleitet hat. Ich füge es, gleichsam als Echo und als äußerst anschauliche Illustrierung des Kakerlaken-Guerilla-Krieges bei. Den Kommentar dazu übernimmt die M.F.Z. -

      Ich bin an Bord,
      wir fahren fort.
      Am Boden sehe ich eine Kakerlake.
      Ich greif´ den Titax und gehe zur Attacke.
      Auf einmal ist die Kakerlake fort.
      Sie ist an einem anderen Ort.
      Da staunst du armer Laie,
      Sie ist bei mir im Portemonnaie.
      Die Kakerlake beginnt zu laufen.
      Der Titax sticht sie über´n Haufen.
      Auf einmal ist das Messer rot,
      da war die Kakerlake tot. -

16. April 1942 Kiel                              
Bei schönem, ruhigen Frühjahrswetter wieder Schulfahrt. Halbamtlichen Verlautbarungen zufolge ist unser Flottillenchef in den Ruhestand versetzt worden. Sein Nachfolger hat gestern das Kommando der Sperrschulflottille übernommen. Nähere Einzelheiten stehen noch aus. -

17. April 1942 Kiel                              
Heute möchte ich meinem braven Zippel wieder etwas mit unter die Arme greifen. Über Nacht sind ein paar Abkommandierungen fällig geworden, und nun gilt es, schnell die Marschpapiere fertigzustellen, die Fahrscheine auszuschreiben und die F-Bücher abzuschließen. Und das braucht alles seine geraume Zeit.
Besonders die F-Bücher bereiten uns manchmal Sorgen. Unter F-Buch versteht man bei der Marine jenes himmelblaue Heftchen, das jeden Soldatem von Kommando zu Kommando begleitet, seine Führung enthält und seinen Werdegang widerspiegelt. Auf dem neuen Kommando wird es dann gewissermaßen als Visitenkarte abgegeben, so daß man schon vom ersten Tage an über die Leistungen und eventuellen Tugenden des neuen Mannes unterrichtet ist. Das hat natürlich sein Gutes, aber auch seinen Nachteil. Es kommt darauf an, von welcher Seite aus man die Dinge ansieht. Die Führung selbst ist inhaltlich unterteilt nach den fachlichen Leistungen, dem militärischen Auftreten und der charakterlichen Eigenart. An interessantesten ist gewöhnlich die charakterliche Beurteilung; denn sie charakterisiert nicht nur den Soldaten, sondern in gleicher Weise auch den, der diese Beurteilung ausstellt. Darüber hinaus aber ist es mit dem Charakter eine sehr heikle Sache. Auf der einen Seite wünscht man sie, und auf der anderen Seite werden sie zerbrochen, sobald sie sich nur von weitem sehen lassen. Wenn man Charaktere will, dann muß man auch verhüten, daß sie von der Masse Mensch totgeschlagen werden; denn davon werden ihrer nur weniger. Für die Charaktere selbst aber ergibt sich die schwere und doppelte Aufgabe, zu wirken und trotzdem am Leben am bleiben. Im Übrigen aber ist Charakter wie Anstand, Sitte und Ritterlichkeit ein Begriff, der im Aussterben ist und der bald nur noch in alten Sagen und verschwommenen Mythen ein kärgliches Dasein fristen wird. Die Zeiten ändern sich eben und die Menschen auch. 
- Im Hafen geblieben . -

18. April 1942 Kiel                              
Der Sonnabend fing zeitig an. Er begann 02.45 Uhr mit dem programmgemäßen Fliegeralarm, der bis 4 Uhr dauerte. Anschließend war Festungsalarm bis 6 Uhr. Nun blieb gerade noch eine Stunde Zeit, um sich schnell noch einmal auf die Bänke im U-Raum zu legen und dann ging es wieder rund. Seit gestern drehen ja alle durch. Der neue Flottillenchef will doch heute einmal über die Boote gehen, und da sollen sich Schiff und Besatzung von der besten Seite zeigen. Deshalb gibt es auch alle Hände voll zu tun; denn jetzt entdeckt man auf einmal jede Kleinigkeit, die bis dahin niemand gesehen hat. Plötzlich gibt es hier noch auszubessern und da zu flicken, dort zurechtzuzurren und hier zu pönen. Dieses ist noch wegzuräumen und jenes mehr in den Vordergrund zu stellen. Es fehlt nur noch, daß man das Boot nach berühmten Vorbild auf der Seite, von der der Flo-Chef zusteigt, frisch streicht. Dann wäre die potemkinsche Fassade vollkommen.
Der Wehrmachtsbericht meldet, daß der Fliegerangriff von heute morgen Hamburg galt.

19. April 1942 Kiel
Heute vormittag hatte ich Besuch. Mein Kamerad Robert Buchheister vom Vorpostenboot 1304, jetzt Maschinenmaat in einer Räumbootflottille, suchte mich auf. Gestern ist er mit seiner Flottille hier in Kiel eingelaufen, und sein erster Weg führte ihn zu mir, und nun gibt es natürlich viel zu erzählen.
Nach Beendigung seines Maschinenmaatenlehrgang wurde Robert zunächst nach Kühlungsborn abgeschoben und dann Ende August einer R-Bootsflottille im hohen Norden zugeteilt. Vier Wochen dauerte die Reise dorthin. Es ging die Erzbahn entlang bis Narvik und dann zur See weiter. Er vertraute sich einem Transportschiff an, das gemeinsam mit zwei anderen die Fahrt nach dem nördlichen Bestimmungshafen wagen wollte. Er gelangte auch wohlbe- halten ans Ziel, während die beiden anderen Schiffe feindlichen U-Booten zum Opfer fielen. Nicht umsonst ist diese Ecke verrufen. Zahlreiche englische U-Boote lauern hier unserem Nachschubverkehr auf und da sie elektrisch laufende Torpedos anwenden, die keine Blasenbahn hinterlassen, ist ein Sichten und Ausweichen unmöglich.
Trotz aller Gefahren erreichte Robert aber doch glücklich sein Kommando und war nun sozusagen ,,Leitender Ingenieur" auf einem R-Boot. Der Dienst war hart und bestand in der Hauptsache aus Räumfahrten bei Tag und Nacht. Dabei wäre er vor der Fischerhalbinsel um ein Haar in russische Gefangenschaft geraten, aber darüber mag er selbst berichten:
,,Wir mußten wieder einmal "Raupenschlepper"dienste übernehmen", erzählt er, ,,und einen Zementprahm in den Hafen schleppen. Der Russe, der unser heißes Bemühen beobachtete, war aber dagegen und seine Küstenbatterien langten mit Granaten nach uns. Jetzt gab es nur noch eines: Möglichst schnell aus dem Feuerbereich zu entkommen. Wir verdoppelten deshalb unsere Fahrtstufe und schossen nur so dahin. Allerdings allein; denn bei dem schnellen Anfahren waren die Schleppseile gebrochen und unser Zementprahm blieb, wo er war. Also wieder Gegenkurs und eine Nebelwand gezogen. Ich setzte mich mit meinem Funkmaat zusammen in ein Schlauchboot. Wir ruderten zum Prahm hinüber und mit viel Mühe kuppelten wir unseren Tender wieder an uns. Um keine Zeit durch die Rückfahrt zu verlieren, wollten wir mit unserem Schlauchboot gleich hinten anhängen. Unterdessen hat unser R-Boot auch schon wieder Fahrt aufgenommen. Wir haschen schnell noch einen Tampen und lassen uns wie ein Schlußlicht hinterherschleifen. Das krampfhafte Halten wird uns aber zu beschwerlich. Deshalb wollten wir unser Halteseil fest an unserem Boot verschlingen. Bei diesem Manöver aber wird unser Schlitten etwas kopflastig und der Fahrtwiderstand so groß, daß wir loslassen müssen. Nun schwammen wir allein und unser Zug fuhr ohne uns davon. Es dauerte nicht lange, so hatten auch die Bolschewisten spitz, was vorgefallen war. Drei Sturmboote stoßen vom Strand ab und nehmen Kurs auf uns. Daß uns das nicht gleichgültig war, kannst du dir denken. Wir hatten keine einzige Waffe, keine Manövriermöglichkeit und saßen hilflos in unserer Gummiblase. Im letzten Moment aber kam Hilfe. Ein deutsches Zerstörerflugzeug erkannte uns auf unser lebhaftes Winken hin und hielt die feindlichen Boote solange mit seinen Bordwaffen von uns ab, bis ein zweites R-Boot mit 20 sm Fahrt angebraust kam und uns aufnahm. Ja, so war das."  –
,,Nein, von unserem alten Vorpostenboot habe ich nichts mehr gehört. Die Kameraden, die mit uns an Bord waren, sind ja alle nach und nach abkomman- diert worden. Den letzten Brief schrieb Kamerad Brüdgam. Er berichtete, daß die Armierung außerordentlich verstärkt worden sei, und daß sie jetzt bei einer Breitseite aus acht Rohren spucken könnten. - Acht Rohre! - Und mit einer Holzkanone hat es angefangen!

20. April 1942   Kiel
Gestern habe ich einen Streit vom Zaune gebrochen und im Zuge der abendlichen Unterhaltung stur und steif behauptet, der Name der Stadt Kiel sei dadurch entstanden, daß die Schiffe stets in Kiellinie in den Hafen einliefen. Diese Deutung aber wollte begreiflicherweise niemand gelten lassen, und so ging der Streit bald hitzig hin und her. Im Streit und von gereizten Leuten aber erfährt  man billig, was man von ihnen wissen will, und  bald standen mir ein halbes Dutzend Namensdeutungen zur Verfügung. Jeder wußte natürlich eine andere und bessere und ich brauchte nur die glaubwürdigste zu akzeptieren. Es war eine preiswerte Methode und billige Art, zu etwas Heimatkunde und Heimatverbundenheit zu gelangen. Da ich aber den Kameraden weiterhin meine These offerierte und alle ihre Einwände verwarf, brachte mir heute morgen ein ortsansässiger Kamerad von zu Hause einen geschicht-lichen Abriß von Kiel mit, um mich, schwarz auf weiß, von der Haltlosigkeit meiner Behauptungen zu überzeugen.
Ich dankte ihm für seinen Aufwand und registrierte mit Genugtuung diese Bereitwilligkeit, die immer dann am größten ist, wenn sie dazu angetan ist, dem anderen sein Unrecht oder seine Unwissenheit nachzuweisen. Schulfahrt .  -

21. April 1942 Kiel
,,Tolle, lege!" - Nimm und lies! sagte schon der alte Augustin. Mag er mit diesen Worten auch vor allem die Bibel gemeint haben und erst in zweiter Linie an die Kieler Chronik gedacht haben, so ist der Ausspruch doch im Prinzip richtig, und demzufolge nehme, lese und studiere ich heute meine Chronik. Heute will ich es wissen. - Schulfahrt.

22. April 1942 Kiel
So, jetzt weiß ich es, und damit ich es nicht wieder vergesse, werde ich es mir aufschreiben.
Also: Die Stadt Kiel entstand zwischen 1233 und 1241 als planmäßige Gründung am Hafen ,,tom Kile" und erhielt nach ihm auch den Namen. Wachstum und Entwicklung der Stadt verliefen dann parallel und im Schatten der weltgeschichtlichen Ereignisse. Im Bunde der Hanse erlangte Kiel keine besondere Bedeutung. Die Entdeckung Amerikas, die den Schwerpunkt von Seefahrt und Handel nach der Nordsee verlagerte, hinderte, wie alle Ostseehäfen auch Kiel an einem raschen Aufschwung. Auch die Einführung der Reformation 1526 wirkte sich nachteilig aus, da durch den Fortfall der zahlreichen Fasten- tage der Heringsfang und die damit verbundenen Verdienstmöglichkeiten beträchtlich zurückgingen. 1740 geriet Kiel in Personalunion mit Rußland, da der Kielische Herzog Peter Katharina, der II., als Gemahl zugeführt  und Kaiser aller Reußen wurde. Da Katharina II. ihren Gemahl aber bereits 1762 ermorden ließ, gerieten die Kieler Erblande bald in Vergessenheit. 1773 fiel Holstein-Gottorp mit Kiel im Austausch gegen Oldenburg-Delmenhorst an Dänemark.
Hier im engeren politischen Rahmen nahm Kiel einen bedeutenden wirtschaftlichen Aufschwung und entwickelte sich rasch zum Mittelpunkt der Herzog- tümer. Bald jedoch geboten die Schatten der weltpolitischen Ereignisse auch diesem Aufschwung wieder Einhalt. Die napoleonischen Kriege unterbanden, im Verein mit der Festlandssperre, allen Handel und Wandel. Schließlich erfolgte 1807 die Bombardierung von Kopenhagen und der Raub der dänischen Flotte durch die Engländer. So wurde Dänemark politisch und wirtschaftlich entmachtet und in die Arme Frankreichs getrieben. Die endliche Niederwerfung Napoleons brachte Kiel den berüchtigten Kosakenwinter 1813/14 und Dänemark am 14.1.1814 den Frieden von Kiel, in dem es Norwegen an Schweden abtreten mußte und dafür Schwedisch-Pommern erhielt, das es 1815 wieder mit Preußen gegen das Herzogtum Lauenburg eintauschte. Unterdessen aber besannen sich die Kieler auf ihr Deutschtum und gerieten dadurch in Widerspruch zu Dänemark. Dieses politische Tauziehen löste schließlich am 29. Dezember 1863 den Einmarsch der deutschen Bundestruppen aus. Damit war die dänische Unterdrückung abgewehrt. Die erstrebte Selbstständigkeit der Herzogtümer Schleswig-Holstein unter Herzog Friedrich VIII. von Augustenburg aber kam nicht zustande. Stattdessen erfolgte am 24.1.1867 die Einverleibung der Herzogtümer in den preußischen Staat.
Die Entwicklung Kiels unter deutscher Flagge vollzog sich dann weiterhin in den Intervallen des geschichtlichen Verlaufs. Diese aber hoben sich umso deutlicher voneinander ab, als Kiel zum Kriegshafen ausgebaut und strategisch exponiert, politisch das Auf und Ab von der völkisch-dynamischen Machtentfaltung bis herab zur nationalen Depressionen am deutlichsten zu spüren bekam und z. Z. auch wieder verspürt.
So spiegelt sich im Kleinen das Große und im Einzelnen das Ganze, heute, gestern und vorgestern. Es ist deshalb durchaus kein Fehler, wenn man von dem, was war, eine Ahnung hat. Zudem ist es immer lehrreich und interessant.
An der Pier gelegen. -

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