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Flotten der Welt => Die Deutsche Kriegsmarine => Deutsche Kriegsmarine - Geschichte und Einsätze => Thema gestartet von: Urs Heßling am 05 Mai 2020, 12:04:53

Titel: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 05 Mai 2020, 12:04:53
moin,

der Fall M 612 (https://de.wikipedia.org/wiki/M_612)

Was kann man heute noch dazu sagen ?

Ein Versagen der Nerven, aber geahndet mit einem Versagen der Gerechtigkeit ?

Gruß, Urs


Siegfried Lenz: Ein Kriegsende (http://www.vimu.info/bel.jsp?id=for_11_8_7_bel_lenzkriegsende_de_doc&lang=de)
Film Rottenknechte (https://de.wikipedia.org/wiki/Rottenknechte_%28Fernsehfilm%29)

Es waren 2 Schnellboote der 3. Schnellboot-Schulflottille
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 05 Mai 2020, 14:53:11
Ist bekannt, was mit den Verantwortlichen für diese Todesurteile passiert ist?
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Axel Niestlé am 05 Mai 2020, 15:59:21
Hallo Urs,

vielen Dank für Deinen Beitrag!

Ich bin mir aber sicher. dass die rund 200.000 Kurland-Kämpfer, die in Libau und anderswo am Strand vergeblich auf die letzte Rettung über See in den Westen durch Einheiten der Kriegsmarine warteten, damals eine andere Meinung zu dem Verhalten der Meuterer und den vollstreckten Strafen hatten als wir es heute pflegen. Nicht ohne Grund haben die Alliierten der Wehrmacht die Kriegsgerichtsbarkeit in den Tagen während und auch noch nach der Kapitulation überlassen. Das war einfacher für sie!

Beste Grüße

Axel

Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: TW am 05 Mai 2020, 16:45:02
Sorry Axel,
aber ich muss Dir widersprechen.
Die Schuld dafür, dass die Kurlandkämpfer nicht rechtzeitig aus der Front gezogen wurden, liegt nicht bei den Meuterern vom M 612 und anderen Deserteuren. Und das Verhalten der Engländer (die meinst Du ja, und nicht die Alliierten) ist auch nicht so einfach zu erklären, wie Du das andeutest. Ich verweise dazu auf die Angelegenheit R 414.

Im Übrigen sind das Eine (Meuterei) und das Andere (Wehrjustiz bleibt bei den Deutschen) zwei Paar Stiefel. Denn die Briten trafen diese Entscheidung nicht auf Grund von Fahnenflucht und Meuterei in der KM.
Viele Grüße,
Thomas

Anm.: Die Meinung der Kurlandkämpfer zur Meuterei ist mir nicht bekannt. Ich glaube nicht, dass sie damals etwas davon erfuhren. Mein Vater, der dort in russische Gefangenschaft ging, hat sein Leben lang nichts davon erfahren oder darüber nachgedacht.

Zitat von: maxim am 05 Mai 2020, 14:53:11
Ist bekannt, was mit den Verantwortlichen für diese Todesurteile passiert ist?

Die Urteile gerieten erst in die Kritik, als die Verantwortlichen schon sehr alt waren. Keiner der Kritiker wollte noch justiziell mit ihnen abrechnen, sondern es ging um die historische Beurteilung dieser Fälle.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: TW am 05 Mai 2020, 17:21:49
Für Alle, die gerne wissen möchten, was ich mit dem Verweis auf R 414 meine:

7.– 9.5.1945
Dänemark / Ostsee

Trotz Inkrafttreten der Teilkapitulation (am 4.5.45) ergeht an zwei vor Kopenhagen liegende Räumboote R 412 und R 414 der Befehl, nach Hela auszulaufen, um noch Flüchtlinge abzuholen. Auf R 414 (Lt.z.S. Constabel) widersetzen sich 2 Besatzungsmitglieder den deutschen Befehlen und wollen die Offiziere an Bord überwältigen; doch der Versuch scheitert. Das Boot verlegt in den Sund bei Drogden, ein Standgericht (KKpt. Hansen-Nootbar) wird einberufen, stellt aber fest, dass ein Urteil unzulässig wäre, wenn ein deutsches Kriegsgericht erreichbar ist. R 414 kehrt zuerst nach Kopenhagen zurück, wird dort zum Fährdienst im Hafengebiet eingesetzt und verlegt nach Gesamtkapitulation der Wehrmacht nach Flensburg, wo sich die ,,Meuterer" in den Schutz der englischen Besatzungsmacht begeben. Der Kommandant von R 414 wird von den Briten verhaftet, die Besatzung von Bord gejagt. (Hans Constabel: Hol nieder Flagge! Ereignisse um ein Standgericht. DSM, Bremerhaven 2001)
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 05 Mai 2020, 17:26:34
moin,

im Fall M 612 lag
- vollendete Meuterei (Vorgehen mit Waffengewalt gegen die Schiffsführung, die Meuterer hatten das Schiff in ihre Gewalt gebracht)
- in Kriegszeiten
- im Kriegsgebiet
vor.

Die Alliierten haben viele Kriegsgerichtsurteile (besonders betr. Geiselerschießungen) untersucht, diesen Fall nicht.

Meuterei war in GB bis 1998 und ist in den USA bis heute mit der Todesstrafe bedroht.
Ich glaube, daß ein britischer, französischer oder sowjetischer Militärrichter im Jahre 1945 nicht gezögert hätte, in einem vergleichbaren Fall die Todesstrafe zu verhängen.

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: TW am 05 Mai 2020, 17:45:20
Aber Urs ... !
Du beurteilst die Dinge quasi apolitisch. Das finde ich nicht richtig.

Die Dinge passierten in Kriegszeiten? Sie passierten in einem von Nazideutschland gegen die Allliierten angestifteten Krieg, der als solcher in Nürnberg auch verurteilt wurde.

In einem Kriegsgebiet, das von einem Unrechtsregime terrorisiert wurde.

Anschließend vergleiche doch die Zahl der Wehrgerichtsurteile (zum Tode) in Deutschland einmal mit denen der Alliierten. Etwa 30 zu 20.000.

Und schließlich noch der Hinweis, dass die Alliierten bei Meuterei und Widerstand nicht grundsätzlich zum Tode verurteilten. Auch dafür gibt es Beispiele in der "Chronik des Seekrieges".
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Axel Niestlé am 05 Mai 2020, 17:52:37
Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 16:45:02
Sorry Axel,
aber ich muss Dir widersprechen.

Hallo Thomas,

Du musst Dich nicht entschuldigen, wenn Du anderer Meinung bist. Das ist doch Dein gutes Recht! Und Deine Kritik ist mir immer lieb und wertvoll.

Aber auch die Meuterer hatten einen Eid geschworen, von dem sie noch nicht entbunden waren. Im Übrigen möchte ich ja auch keineswegs der Notwendigkeit einer Vollstreckung der Todesurteile das Wort reden. In der brutalisierten und fanatisierten Welt von damals galten andere Maßstäbe als heute, so dass ein direkter Vergleich immer hinkt.

Mit den besten Grüßen

Axel   
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: TW am 05 Mai 2020, 18:07:14
Hi Axel,
eine echte, keine rhetorische Frage: Wie war das mit dem Eid?
Wer freiwillig zum Militär geht und seinen Eid ablegt, muss sich daran halten. Das finde ich auch. Aber was ist mit den massenhaft Zwangsrekrutierten. Konnten sie den Eid auch verweigern?

Und noch ein Satz über Urs' Statement: Ein Versagen der Nerven, aber geahndet mit einem Versagen der Gerechtigkeit ?

Ich denke die ganze Zeit über diesen Satz nach. Kostete die Meuterei nicht sehr viel mehr Nerven als stiller Gehorsam? Und nach dem, was Du über das gerechte Todesurteil sagtest, Urs, weiß ich nicht mehr, was Du mit "Versagen der Gerechtigkeit" meinst.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 05 Mai 2020, 18:16:01
Und was bedeutet der Eid, wenn die Marine in der Region eigentlich schon kapituliert hat?

Mal abgesehen davon, dass ich einen Eid in einer Terrorherrschaft auch für irrelevant halte. Der ist genauso erzwungen wie fast alles andere.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: TW am 05 Mai 2020, 18:32:00
Während von M 601 in der Nacht zuvor fünf Besatzungsmitglieder desertiert sind und das Boot daher nicht einsatzbereit ist, läuft M 612 (Oblt.z.S. Kropp) entgegen den Bedingungen der Teilkapitulation (vom 4.5.45) von Sonderburg aus. Doch Teile der Besatzung wollen ihr Leben nicht mehr aufs Spiel setzen, widersetzen sich den deutschen Befehlen und nehmen die Offiziere an Bord fest.

Die Wehrmacht hatte in einem Teilgebiet, in Schleswig-Holstein und Dänemark, nicht nur "eigentlich", sondern tatsächlich und definitiv kapituliert. Die Engländer hatte allen dt. Kriegsschiffen ein Auslaufverbot erteilt.

Wäre M 612 vor Kurland von den Russen aufgebracht worden, dann hätte das Tod oder Kriegsgefangenschaft in Sibirien bedeutet.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 05 Mai 2020, 18:34:53
moin, Thomas,

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 17:45:20
Du beurteilst die Dinge quasi apolitisch. Das finde ich nicht richtig.
Das steht Dir natürlich frei.
Aber Du betrachtest sie aus heutiger Sicht. Das halte ich für un-historisch.

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 17:45:20
Die Dinge passierten in Kriegszeiten? Sie passierten in einem von Nazideutschland gegen die Allliierten angestifteten Krieg, der als solcher in Nürnberg auch verurteilt wurde.
In einem Kriegsgebiet, das von einem Unrechtsregime terrorisiert wurde.
Die Meuterei auf M 612 war kein Akt des Widerstands gegen ein Unrechtsregime so wie zB noch 1975 die Meuterei auf der Storoshevoyy.
Es war de facto (zusätzlich) ein Fall von kollektiver Fahnenflucht.
Es wurde der Wehrmacht und der Wehrmachtsjustiz nicht grundsätzlich vorgeworfen, daß man für ein Terrorregime gekämpft hatte.

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 17:45:20
Anschließend vergleiche doch die Zahl der Wehrgerichtsurteile (zum Tode) in Deutschland einmal mit denen der Alliierten. Etwa 30 zu 20.000.
Ich weiß das, und es ist furchtbar.
Aber es ist für diesen Einzelfall nicht relevant.

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 17:45:20
Und schließlich noch der Hinweis, dass die Alliierten bei Meuterei und Widerstand nicht grundsätzlich zum Tode verurteilten. Auch dafür gibt es Beispiele in der "Chronik des Seekrieges".
Richtig ... nicht grundsätzlich.

Ich verstehe Deine Emotionen. Aber sie sind bei der Bewertung, ob diese Urteile Unrecht waren, nicht am Platz.

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 05 Mai 2020, 18:42:44
moin,

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 18:32:00
Doch Teile der Besatzung wollen ihr Leben nicht mehr aufs Spiel setzen,
Gültiges Wehrstrafgesetz § 6
Furcht vor persönlicher Gefahr entschuldigt eine Tat nicht, wenn die soldatische Pflicht verlangt, die Gefahr zu bestehen.

Der Kommandant M 612 trug die Verantwortung für sein Handeln (ggf. gegenüber einem alliierten Gericht, das ein Berufen auf Befehle einer vorgesetzten Dienststelle evt. nicht akzeptiert hätte). Da sein Handeln aber keine Straftat beinhaltete, bestand für die Besatzung erst einmal Gehorsamspflicht.

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 05 Mai 2020, 18:50:24
moin, maxim,

Zitat von: maxim am 05 Mai 2020, 18:16:01
Und was bedeutet der Eid, wenn die Marine in der Region eigentlich schon kapituliert hat?
Solange die Streitkraft nicht offiziell aufgelöst ist, besteht die Eidpflicht (weiter).


Zitat von: maxim am 05 Mai 2020, 18:16:01
Mal abgesehen davon, dass ich einen Eid in einer Terrorherrschaft auch für irrelevant halte. Der ist genauso erzwungen wie fast alles andere.
Tja.
Diese Frage hat auch die Attentäter des 20. Juli bewegt, die wohlgemerkt! 1934 oder noch früher ihre Eide wirklich (frei)willig abgelegt hatten.
Ihre Logik war, daß Eidgeber (Soldat) und Eidnehmer (Hitler) eine gegenseitige Pflicht zur Loyalität haben.
Wenn der Eidnehmer seine Pflicht und Verantwortung gegenüber dem Eidnehmer verletzt bzw. gar nicht mehr beachtet, ist der Eidgeber von seiner Eidespflicht entbunden.

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: TW am 05 Mai 2020, 18:50:47
Nein Urs,
Desertion ist ein Akt des Widerstandes gegen einen Krieg, den man nicht will.
Es ist die einzige Möglichkeit des "Schützen Arsch", sich zu widersetzen.
Und wenn man gemeinsame Sache mit Kameraden macht, dann ist es Meuterei.

Wo ist den nun das von Dir zitierte "Versagen der Gerechtigkeit" ?
Ist doch aus Deiner Sicht alles prima gerecht gelaufen, wie ?
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 05 Mai 2020, 19:02:35
moin,

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 18:50:47
Wo ist den nun das von Dir zitierte "Versagen der Gerechtigkeit" ?
Das Urteil als solches war sehr hart, aber korrekt.
Die Ausführung war unter den gegebenen Umständen das "Versagen der Gerechtigkeit".
Hier hätte die Menschlichkeit vorangehen müssen.


Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 18:50:47
Ist doch aus Deiner Sicht alles prima gerecht gelaufen, wie ?
ach, Thomas,
was sollen denn solche Anwürfe und Unterstellungen (die ich mir nachdrücklich verbitte)
Die Antwort auf deine Frage ist: nein.
EDIT: diese Antwort bezog sich auf "prima".

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: TW am 05 Mai 2020, 19:05:30
Urs, Du sagst:
Es wurde der Wehrmacht und der Wehrmachtsjustiz nicht grundsätzlich vorgeworfen, daß man für ein Terrorregime gekämpft hatte.

Nein, umgekehrt wird ein Schuh daraus:
Die Berufung auf Befehl und Gehorsam hat die Täter nicht aus der Eigen-Verantwortung für ihr Handeln entlassen. Und zwar zu Recht (aus nachträglicher Sicht!).

Man darf die Dinge auch nicht auf die zeitgenössische Sicht beschränken.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: TW am 05 Mai 2020, 19:08:01
"Hier hätte die Menschlichkeit vorangehen müssen."
Meinst Du damit Gnade vor Recht?
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 05 Mai 2020, 19:12:55
moin, Thomas,

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 19:05:30
Die Berufung auf Befehl und Gehorsam hat die Täter nicht aus der Verantwortung für ihr Handeln entlassen. Und zwar zu Recht (aus nachträglicher Sicht!).
Einverstanden.
Aber ist "Täter" aus deiner Sicht auch zB der Geschützführer des Schnellboots, dessen Geschoß im Gefecht Robert Hichens tötete ?

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 18:50:47
Es ist die einzige Möglichkeit des "Schützen Arsch", sich zu widersetzen.
Nein. siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_J%C3%A4gerst%C3%A4tter (https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_J%C3%A4gerst%C3%A4tter)

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 19:08:01
"Hier hätte die Menschlichkeit vorangehen müssen."
Meinst Du damit Gnade vor Recht?
Nein, mehr.
Der Gerichtsherr hätte das Urteil ablehnen können.

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: TW am 05 Mai 2020, 19:25:15
Zitat von: Urs Heßling am 05 Mai 2020, 19:12:55

Aber ist "Täter" aus deiner Sicht auch zB der Geschützführer des Schnellboots, dessen Geschoß im Gefecht Robert Hichens tötete ?
Ja, er muss sein Tun und Lassen vor sich und vor Gott verantworten.

Die Geschichte von Franz Jägerstätter ist sehr berührend.
Aber sie endete in seiner "Ermordung" (nicht im juristischen Sinne) und nicht in seiner Freiheit.

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 19:08:01
"Hier hätte die Menschlichkeit vorangehen müssen."
Meinst Du damit Gnade vor Recht?

Du antwortest: Der Gerichtsherr hätte das Urteil ablehnen können.
Ist das denn nicht Gnade vor Recht ?

Gruß, Thomas
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 05 Mai 2020, 19:44:50
moin,

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 19:25:15
Ja, er muss sein Tun und Lassen vor sich und vor Gott verantworten.
Gut, das müssen wir alle.
Aber nun hast Du, meine ich, Deine "Täter"-Verantwortungs-These auf eine andere, nicht juristische, sondern fast metaphysische Ebene verschoben


Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 19:25:15
Die Geschichte von Franz Jägerstätter ist sehr berührend.
Aber sie endete in seiner "Ermordung" (nicht im juristischen Sinne) und nicht in seiner Freiheit.
... und der Deserteur, der "in die Freiheit" flieht, welche Verantwortung hat der, wenn zB nach seinem Verlassen eines Flakgeschützes ein Tiefflieger einen Zug mit Frauen und Kindern in Brand schießt ?  Keine ?


Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 19:25:15
Du antwortest: Der Gerichtsherr hätte das Urteil ablehnen können.
Ist das denn nicht Gnade vor Recht ?
Nein, mehr.
Gnade vor Recht wäre: Anerkennung des Urteils, keine Durchführung
Gerechtigkeit wäre: Erkennen des juristisch korrekten Urteils als verfehlt.

Denn: Gerechtigkeit ist mehr als juristische Korrektheit.

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: TW am 05 Mai 2020, 19:52:43
Hier sind wir in allen 3 Punkten nicht so weit auseinander.

"Täter" sind für mich tatsächlich nicht nur solche, die juristisch dazu erklärt wurden.
Das ist aber keine metaphysische Ebene, sondern eine politische.

Nicht der, der das Flakgeschütz nicht mehr bedienen will, ist der Mörder von Frauen und Kindern (immer noch dieses Vorschieben von Frau und Kind ?), sondern der Flugzeugführer. -- Nicht die Meuterer sind verantwortlich dafür, dass der Kurlandkessel nicht rechtzeitig geräumt wurde.

Gerechtigkeit ist mehr als juristische Korrektheit. Ja! - Aber warum ist (in Deinen Augen) das juristisch korrekte Urteil ungerecht=verfehlt?
Ich kann Deinen Gedankengang noch immer nicht nachvollziehen.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Arche am 05 Mai 2020, 20:01:54
Hallo zusammen,

ich habe hier gerade mal mitgelesen. Grundsätzlich habe ich immer mal wieder mit dem Urteil auseinandergesetzt und wenn man viele Gerichtsakten durchgelesen hat, fallen doch schon einige Sachverhalte auf, die nicht korrekt waren.
Wir haben es mit Marinesoldaten zu tun, die in der Regel ihren militärischen Werdegang hatten. 2 Soldaten waren vorher beim Heer, einer bei der Luftwaffe und alle anderen haben keine Auffälligkeiten in ihren Kommandos. Bei Rust gab es ein Bruch während der Ausbildung zum Bachstelzenpiloten (wohl aus disziplinarischen Gründen). Auffällig ist aber das verstärkte Mitdenken und auf die Eigenständigkeit der Entscheidungen. Sie waren also nicht mehr bereit, jeden Befehl auszuführen, wenn sie dessen Logik nicht verstanden oder sich durch diesen Befehl bedroht fühlten. Auf der anderen Seite war es gerade für die Offiziere kein gutes Zeichen, wenn jeder Befehl hinterfragt wurde. Neben den Todesurteilen gab es ja noch 4 Verurteilungen wegen Aufruhr. Es war also auch eine Versammlung/Zusammenrottung gegen die Staatsmacht. Wegen Aufruhr wurden verurteilt Hieronymus Czak, Paul Schwirtz, Johann Mittelhauser und der Marinesoldat Müller. Sie mussten nach jeder Erschiessung den Hingerichteten mit Gewichten ins Meer versenken. Eine vergleichbare Tat ist mir nicht bekannt. Üblich war, dass die letzte Einheit eines zum Tode verurteilten Soldaten das Erschiessungskommando stellt und den Leichnam "abtransportierte". Hier sollte sicherlich auch Exempel durchgeführt werden. Leutnant Süß war im Prozeß derjenige, der die Soldaten an Messer lieferte und danach das Erschiessungskommando leitete. Das er der Erste war, der das Boot verließ und auch später nie wieder auftauchte, gibt Rätsel auf (sollte ich mich hier irren, würde ich mich freuen, mehr über Leutnat Süß zu erfahren). Außerdem waren Marineoberstabsrichter Berns und Marinestabsrichter Holzwig nicht alleine. Es gab noch die Beisitzer Korvettenkapitän Mettenheimer und ObBtsMt Röder. Nur der Gerichtsherr Hugo Palm kam ja nach dem Krieg vor ein Gericht und das Verfahren wurde eingestellt.
Aus meiner Sicht war das Urteil nicht korrekt, da es schon eine Vorverurteilung gab.

Heinz-Jürgen
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 05 Mai 2020, 20:15:43
moin,

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 19:52:43
Nicht der, der das Flakgeschütz nicht mehr bedienen will, ist der Mörder von Frauen und Kindern (immer noch dieses Vorschieben von Frau und Kind ?), sondern der Flugzeugführer. --
Da bleiben wir dann unterschiedlicher Meinung.
Gut, lassen wir Frauen und Kinder weg.
Der Deserteur ist für die höhere Gefährdung und den evt. Tod seiner Kameraden aufgrund seines Fehlens mit-verantwortlich - zumindest, wie Du sagst, vor Gott und sich selbst.

Das juristisch korrekte (ich sehe da schon eine andere Meinung von Arche) Urteil ist verfehlt, weil es in meinen Augen nicht gerecht ist. Besser kann ich es nicht erklären.

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Aquarius am 05 Mai 2020, 22:07:45
Liebe Diskutanten,

genau dieses Austauschen von Argumenten bei respektvollem Verhalten gegenüber einer abweichenden Meinung des Gegenübers macht den Wert unseres Forums aus. Ich danke allen Beteiligten für diesen Beitrag. Krieg ist m. E. niemals ein Zustand, der den Anspruch daß Gerechtigkeit waltet auch nur in Ansätzen erfüllt. Alle Beteiligten (eines Krieges) erfahren einen Zustand der Gerechtlosigkeit, den die geweiligen Machtinhaber durch eine "Pseudogerechtigkeit" zu ersetzen beabsichtigen. Eide sind in diesem Kontext nichts Anderes als ein perfides Mittel von Machtausübung.
Ich halte mich für einen Realisten und erkenne, das Menschen leicht zu unmenschlichem Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen gebracht werden können. Dankbar nehmen sie dann die gebotene "Pseudogerechtigkeit" zur Rechtfertigung gegenüber dem eigenen Gewissen an. Mir ist auch klar,  dass Kriege zur Natur von Menschen gehören. Weil das so ist, sollten wir aber erkennen, dass es alle Mühe wert ist, gegen diesen Aspekt unseres Seins anzukämpfen. Ein Gewissen (vulgo. Selbstreflektion) ist dabei extrem hilfreich.  Lasst uns auch im Forum dazu beitragen, in dem wir im Gegenüber auch immer uns selbst sehen.  Mit etwas Geschick und Glück bleibt uns dann das erspart, was hier gerade diskutiert wird. Möge uns unser Glück (Geschick) noch lange erhalten bleiben.

Aquarius
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Gebirgsmarine am 06 Mai 2020, 00:14:35
Hallo Zusammen!

Hat nichts mit der Seefahrt zu tun, aber passt zum Thema Deserteure.

Habe gerade am vergangenen Sonntag einen längeren Bericht über die Kämpfe der 2. Gebirgsdivision an der Eismeerfront gelesen. Die Frontlinie war dort oben an nur wenigen kurzen Stellen durchgängig besetzt. Ansonsten nur durch einsame Kampfstützpunkte, meist in Zugstärke, jeweils mehrere Kilometer Zwischenraum zum nächsten Stützpunkt. Der Raum dazwischen wurde Tag und Nacht durch Spähtrupps überwacht. Hier mußte sich jeder auf seinen Kameraden unbedingt verlassen können. Ein Verwundeter mußt oftmals bis zu 21 Stunden von acht Mann zurück getragen werden. Der Russe hat fast durchweg jeden Verwundeten erschlagen, erschossen, ermordet.
Um für Unwissende die Dimensionen zu zeigen. An der rechten Front klaffte eine Lücke von ca. 500 Km zu den Finnen runter. Und dies fast drei Jahre lang.
Der Berichter teilte also, als einer der wenigen Überlebenden eines solchen Stützpunktes, folgendes mit. Um eine Annäherung des Feindes rechtzeitig mitzubekommen und um für die Alarmierung des Stützpunktes etwas Zeit zu gewinnen, wurden ca. 20 -30 Meter vor der zur Rundumverteidigung ausgebauten Stellung sogenannte Horchposten vorgeschickt. Bei Annäherung des Feindes konnten sie mittels einer Schnur die bis zum Bunker führte, und an derem Emde eine Konservendose mit kleinen Steinen befestigt war, stillen Alarm geben. Wenn der Feind dann den Graben erreichte wurde er schon erwartet. Zeit hatte man durch diesen Alarm gewonnen, da der Gegner ja leise Anschlich und dies dauerte auch. 
Ein wahres Himmelsfahrtskommando. Sie waren stets ein begehrtes Ziel des Feindes wenn sie einen Gefangenen zur Informationsgewinnung brauchten.
Ein solcher Horchposten setzte sich heimlich aus ihrem Stützpunkt zum Russen ab. Keiner der Nachbarposten hatte etwas mitbekommen.
Schon in kürzester Zeit fiel der Russe über den Stützpunkt her. Nur drei überlebten den Angriff, der völlig überraschend und unvorbereitet die Verteidiger traf.

Soviel zum Deserteur.

Übrigens was ich über das Stützpunktsystem geschrieben habe galt auch für den Gegner. Der hatte genau so ein elendes Leben wie die Deutschen und Österreicher. Nur eine erheblich bessere Winterausrüstung und einen kurzen Nachschubweg von Murmansk her. Seine Schiffsartillerie mischte sich auch sehr oft ein. Dies kann man gut in "Chronk des Seekriegs" nachlesen.

1944 beim entscheidenden Großangriff der Russen bei Petsamo sicherte ein Gebirgsgeschütz an einer noch nicht gesprengten Brücke. Die kleine Kanone war die die als letzte der Batterie zurückblieb um den Rückzug zu decken. Der Chef selbst, ein Hauptmann, blieb bei dieser gefährlichen Arbeit bei seinen Kanonieren vorn. Der Batterieoffizier, ein Leutnant führte die Batterie zurück. Plötzlich tauchten Panzer auf. In dieser panzerfeindlichen Region mit Fels und Sümpfen eher selten. Aber dank, der kurz vorher angekommenen Spezialgranaten, die extra für die Panzerbekämpfung geliefert wurden, behielt der Chef die Nerven und beruhigte seine Männer. Das Kanönchen war völlig ungeeiget zur Panzerbekämpfung. war es doch keine Pak. Aber die neue Muni gab Hoffnung. Zu dieser Zeit herrschte bereits im ganzen Abschnitt Panik. Alles flutete zurück, teilweise waren die Waffen schon weggeworfen. Rette sich wer kann.
Die neue Munition war so kurzfristig geliefert worden daß noch nicht ein Probeschuß abgefeuert werden konnte. Siebenmal wurden Panzer getroffen. Erst die achte Granate zündete. Aber der Hauptmann und seine paar Hansel hielten mit ihrer Kanone solange durch bis keine eigenen Leute mehr kamen und die Brücke gesprengt werden konnte.
Genau dieser Hauptmann, und dazu sein Batterieoffizier ein Leutnant, wurden im April 1945 in Norwegen, wenige Tage vor Schluß, von einem Obergefreiten in der Nacht erschossen. Mir liegen über diesen Vorfall die Kriegsgerichtsakten des AOK 20 vor. (Der fleißige Kriegstagebuchleser. Vielen Dank auch noch für die Geburtstagsgrüße Urs und andere).
Der Obergefreite erklärte sich zum Chef und forderte die Mannschaften auf mit ihm zur nahen schwedischen Grenze zu flüchten. Etliche gingen mit ihm.
Aber die Jäger der angesetzten Gebirgsjägerkompanie in der Nähe waren eben in den Bergen besser und schneller als die Artilleristen. Und ihr Zorn war groß ob dieser Tat, als sie alarmiert zur Verfolgung ansetzten.

Auch ein Deserteur

So, nun bleibt gesund und viele Grüße
Gerhard
     
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Rheinmetall am 06 Mai 2020, 12:39:29
Hallo liebe Mitglieder !

Auch ich habe diesen Thread mitgelesen und fand ihn hochinteressant.
Von den Meutereien wusste ich bislang nichts !
Ist auf weiteren, hier nicht explizit genannten Einheiten, kurz vor Kriegsende auch noch gemeutert worden ?
Bei der U-Boot Waffe sind mir solche Vorfälle jedenfalls nicht bekannt.

Ebenfalls interessant finde ich die verschiedenen Blickwinkel der hier schreibenden Mitglieder.
Einzig was bei mir regelmäßig die Nackenhaare zu Berge stehen lässt, sind die Begriffe "Hitler- oder Nazi-Deutschland" (letzterer hier genannt).
Denn es gab meiner Meinung (vorallem bei der Kriegsmarine) etliche Männer, die als Soldaten ihre Pflicht erfüllten und hierfür auch den teuersten Preis bezahlten, ohne Nazi zu sein, oder irgendetwas auf Hitler zu halten.
Bestes Beispiel hierfür war mein Großonkel, welcher kriegsversehrt und mit einem massiven PTBS, welches sich kurz vor seinem Tod mir gegenüber in seiner vollen Hässlichkeit zeigte, aus dem Krieg zurückkehrte.
Diese Männer haben es nicht verdient, das man sie mit den oben genannten Begriffen in Verbindung bringt.

Aber jetzt wieder zurück zum eigentlichen Thema.  top

Beste Grüße,

Matze
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Arche am 06 Mai 2020, 13:17:20
Hallo zusammen,

wir sind ja in unseren Gesellschaftssystem mittlerweile bei der Freiwilligkeit angelangt. Die Gewissensentscheidung, ob ich eine Waffe in die Hand nehme oder darauf aus Gewissensgründen verzichte ist auch schon Geschichte. Ich finde den Vergleich, der hier gezogen wird, dass die Meuterei gleichsetzt mit einer "Fahnenflucht", nicht richtig. Die Soldaten haben die Offizieren entwaffnet und sich bewaffnet, um nicht weiter zu kämpfen. Auf jeden Fall war einigen Offizieren nach der Entwaffnung, das Stangericht wichtiger als sofort nach Kurland zu fahren. Das die meuternden Soldaten im Endeffekt sich und die anderen Soldaten vor weiteren Kriegshandlungen schützen wollten, geht hier vöölig unter, wenn die Handlung als eine Art Fahnenflucht sehe. Ich kann die Argumentationskette von Urs und Gerhard schon nachvollziehen, aber am Ende haben wir alle nur ein Leben, auch der Soldat. Es gab natürlich in den letzten Kriegstagen auch Prozesse gegen fahnflüchtige Marinesoldaten, die anders ausgingen. In der Kenntnis der Kriegslage wurde dort anders geurteilt. Es kam also eher darauf an, wie der Einzelne dachte. Es muß eine Zukunft geben oder ein anderes Leben ist nicht vorstellbar. Die Befehlsstruktur muß auf jeden Fall erhalten bleiben. Das menschliche Gehirn ist so strukturiert, dass es kontinuierlich dazulernt. Das gilt auch für Marinesoldaten. Je länger die Erfahrungen sich summieren, desto stärker wird der eigenständige Gedanke und Befehle werden analysiert. Hier kommt es dann auch zu Konflikten oder in seltenen Fällen zur Meuterei.

Zu Matze:
Es gab wohl ein Fall der Meuterei auf U 994. Auch hier machte der Kommandant vor Gericht aus meiner Sicht keine gute Figur. Auch hier waren Soldaten, die schon Erfahrungen hatten und den Entschluß gefasst haben, zu meutern. Es gab ein Todesurteil und drei unbestätigte Todesurteile, da der Krieg zu Ende war.

Heinz-Jürgen
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 06 Mai 2020, 14:21:49
Zitat von: Rheinmetall am 06 Mai 2020, 12:39:29
Einzig was bei mir regelmäßig die Nackenhaare zu Berge stehen lässt, sind die Begriffe "Hitler- oder Nazi-Deutschland" (letzterer hier genannt).
Denn es gab meiner Meinung (vorallem bei der Kriegsmarine) etliche Männer, die als Soldaten ihre Pflicht erfüllten und hierfür auch den teuersten Preis bezahlten, ohne Nazi zu sein, oder irgendetwas auf Hitler zu halten.
Es hat auch solche Leute gegeben, aber man sollte zwei Punkte nicht vergessen:
a) die Kriegsmarine war Teil eines Terrorregimes, einer faschistischen Willkürherrschaft. Sie stand nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern war ein Teil davon. Sehr deutlich wird dies vielleicht auch dadurch, dass mit Dönitz ein Offizier der Kriegsmarine von Hitler zum Nachfolger auserwählt wurde. Dönitz war ein fanatischer Nazi. Insbesondere bei den jüngeren Offizieren gab es außergewöhnlich viele fanatische Nazis.

b) egal was die Einstellung des einzelnen Kriegsmarine-Angehörigen gewesen war, sie kämpften tatsächlich für dieses Terroregime - außer, sie stellten sich bewusst dagegen, wie es diese Meuterer vor 75 Jahren machten. "Nur ihre Pflicht erfüllen" bedeutete damals für den Erhalt eines Terroregimes zu kämpfen.

Das Argument, dass diesen Offizieren offensichtlich das Umbringen der Meuterer wichtiger als der Einsatz war, finde ich übrigens interessant. Das sollte man betonen!
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 06 Mai 2020, 14:56:43
moin,

Zitat von: maxim am 06 Mai 2020, 14:21:49die die Kriegsmarine war Teil eines Terrorregimes
Dieses Gesamturteil geht Dir leicht von der Hand.
Das gilt dann auch für jeden Funktionär, wie einen Schwellenleger, der Schienen reparierte, auf denen dann ein Transportzug nach Auschwitz fuhr ?


Zitat von: maxim am 06 Mai 2020, 14:21:49
b) egal was die Einstellung des einzelnen Kriegsmarine-Angehörigen gewesen war, sie kämpften tatsächlich für dieses Terroregime - außer, sie stellten sich bewusst dagegen, wie es diese Meuterer vor 75 Jahren machten.
Einspruch !!!  Das ist eine schlimme Verdrehung der Tatsachen !
Die Angehörigen der verschiedenen Widerstandsgruppen (Stichworte Rote Kapelle, Weiße Rose, Kreisauer Kreis, 20. Juli) stellten sich bewußt und unter Inkaufnahme des damit verbundenen Risikos für ihr eigenes Leben und das ihrer Angehörigen gegen das NS-Regime.
Die Meuterer von M 612 versuchten nur ihr eigenes Leben zu retten.

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: kalli am 06 Mai 2020, 15:39:51
Zitat von: Urs Heßling am 06 Mai 2020, 14:56:43
Die Meuterer von M 612 versuchten nur ihr eigenes Leben zu retten.

wer am 05. Mai 1945 versucht sein eigenes Leben zu retten - naja, dafür habe ich schon ein großes Verständnis.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 06 Mai 2020, 16:13:42
Zitat von: Urs Heßling am 06 Mai 2020, 14:56:43
Zitat von: maxim am 06 Mai 2020, 14:21:49die die Kriegsmarine war Teil eines Terrorregimes
Das gilt dann auch für jeden Funktionär, wie einen Schwellenleger, der Schienen reparierte, auf denen dann ein Transportzug nach Auschwitz fuhr ?
Meine Aussage war, dass die Kriegsmarine Teil des faschistischen Systems war. Natürlich galt dies auch für die Reichsbahn.

Die Einstellung der einzelnen Personen ist eine Sache, aber so lange sie sich an die Befehle hielten, unterstützt sie gewollt oder ungewollt das Terrorregime. Das ist nun mal die Realität in einem solche System.

Zitat von: Urs Heßling am 06 Mai 2020, 14:56:43
Zitat von: maxim am 06 Mai 2020, 14:21:49
b) egal was die Einstellung des einzelnen Kriegsmarine-Angehörigen gewesen war, sie kämpften tatsächlich für dieses Terroregime - außer, sie stellten sich bewusst dagegen, wie es diese Meuterer vor 75 Jahren machten.
Einspruch !!!  Das ist eine schlimme Verdrehung der Tatsachen !
Die Angehörigen der verschiedenen Widerstandsgruppen (Stichworte Rote Kapelle, Weiße Rose, Kreisauer Kreis, 20. Juli) stellten sich bewußt und unter Inkaufnahme des damit verbundenen Risikos für ihr eigenes Leben und das ihrer Angehörigen gegen das NS-Regime.
Die Meuterer von M 612 versuchten nur ihr eigenes Leben zu retten.
Die Meuterer von M 612 stellten sich bewusst gegen die Befehle unter Inkaufnahme des entsprechenden Risikos - offensichtlich war es ein Risiko, sie wurden dafür umgebracht. Was diese Leute genau wollten, kannst du nicht wissen (ich auch nicht). Tatsache ist, dass sie sich bewusst gegen die Befehle gestellt haben. Damit haben sie einen Widerstandshandlung begangen, egal warum. Es gab auch den sogenannten "konservativen Widerstand", dessen Widerstand nur darin bestand, darüber geredet zu haben, welche andere Form von autoritären, undemokratischen Regime sie gerne gehabt hätten. Das würden die wenigsten Leute als "heldenhaft" oder sonst irgendwie positiv sehen - aber sie zählen auch zum Widerstand und deren Risiko war sogar geringer als das der Meuterer von M 612. Ihr Risiko bestand darin von einem ihren Kumpanen verraten zu werden, die Meuterer von M 612 stellten sich offen gegen ihre Befehle.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: smutje505 am 06 Mai 2020, 16:34:15
Ist bekannt, was mit den Verantwortlichen für diese Todesurteile passiert ist? Anfrage von maxim

Nachdem Urs den Hinweis gab das es in der DDR ein Film darüber gab habe ich gleich gekramt und gefunden.Gestern habe ich ihn mir angeschaut und im Umschlag folgendes noch gefunden.Der Film hat 5 Teile und dauert 330 min.und wurde 1971 erstmals im DDR Kinos gezeigt die Version die ich besitze wurde 2013 auf CD herausgegeben.
Noch ein Zusatz das Labo Rolf Peters diente ab 1981 als Transporter"Neuendorf" der Weißen Flotte
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 06 Mai 2020, 17:00:10
Vielen Dank für die Infos!

D.h. für die Verantwortlichen für die Urteile hatte dies keine Konsequenzen - und die Urteile wurden auch erst 2009 aufgehoben.

Es gibt ja noch einen bekannten Marinerichter, Hans Filbinger, dem seine Urteile auch lange nicht geschadet haben.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: jockel am 06 Mai 2020, 17:29:54
"Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein", Ministerpräsident Hans Filbinger am 15. Mai 1978 in einem Interview, das er dem "Spiegel" gab. Quelle (https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/ns-vergangenheit-die-affaere-filbinger)

Gruß
Klaus
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Hastei am 06 Mai 2020, 17:35:08
ein interessantes Buch von Hans Constabel über dieses Thema auf einem Räumboot. Bekannt ?

Gruß Hastei
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 06 Mai 2020, 17:43:37
moin,

Hans Constabel war der Kommandant des hier in diesem Thread bereits von Thomas Weis erwähnten Räumboots R 414.

Daher noch einmal ein Verweis zur Quellenangabe in der "Chronik des Seekriegs"
https://www.wlb-stuttgart.de/seekrieg/kriegsrecht/widerstand.htm (https://www.wlb-stuttgart.de/seekrieg/kriegsrecht/widerstand.htm)

@maxim
Wir werden hier wohl bei unterschiedlichen Meinungen bleiben. Das steht uns zu.

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Hastei am 06 Mai 2020, 18:13:00
Siegfried Lenz hat das doch auch in einem Buch verarbeitet. Fällt mir aber im Moment nicht ein. ( dabei habe ich es irgendwo ? )
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 06 Mai 2020, 18:21:24
moin,

siehe Startbeitrag des Threads :wink:

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: M-54842 am 06 Mai 2020, 20:20:17
Das es auch Offiziere gab, die menschlich und mit Verstand reagierten, hat Gerrit Reichert in seinem Buch ,,U 96 Realität und Mythos" dokumentiert. Dort heißt es auf Seite 137:
,,Mein Name ist Dr. Koreuber, ich war einer der Ärzte, die damals den U-Booten wegen der hohen Fliegerverluste zugeteilt wurden. Als ein Kollege und ich in Bergen auf ein U-Boot sollten, hielten wir das für sinnlos und sprachen offen darüber. Wir wurden denunziert, es kam zu Standgericht und Urteil. Nach kurzer Beratung von Obersten Gerichtsherrn und Beisitzern wurden wir zum Tode durch Erschießen verurteilt. Nach Verkündung bat der Gerichtsherr die Beisitzer, den Raum zu verlassen, um noch ein letztes Wort mit den Delinquenten zu sprechen. Wir saßen natürlich da wie vor den Kopf geschlagen. Der Gerichtsherr war Ihr Vater, Heinrich Lehmann-Willenbrock. Er ließ seine Ordonnanz drei Gläser mit Cognac bringen, diese gehen und sagte, nachdem er uns hatte davon trinken lassen: Meine Herren, Sie wissen, dass ich nicht anders konnte, als Sie zum Tode zu verurteilen. Aber Sie sollten auch wissen, dass sämtliche Todesurteile in Berlin unterschrieben werden müssen. Und manche Post geht von Berlin nach Bergen verloren. Auf ihr Wohl! So war Ihr Vater. Nur durch ihn sitze ich hier vor Ihnen."
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Sprotte am 06 Mai 2020, 22:36:48
Wie heisst es so schön: Mensch bleiben muss der Mensch.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Elektroheizer am 06 Mai 2020, 22:48:36
Zitat von: Hastei am 06 Mai 2020, 18:13:00
Siegfried Lenz hat das doch auch in einem Buch verarbeitet. Fällt mir aber im Moment nicht ein. ( dabei habe ich es irgendwo ? )
Meinst Du Der Überläufer (https://de.wikipedia.org/wiki/Der_%C3%9Cberl%C3%A4ufer_(Roman)), dessen Verfilmung vor kurzem im Ersten gesendet wurde?
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Spee am 07 Mai 2020, 07:39:12
Servus,

b) egal was die Einstellung des einzelnen Kriegsmarine-Angehörigen gewesen war, sie kämpften tatsächlich für dieses Terroregime - außer, sie stellten sich bewusst dagegen, wie es diese Meuterer vor 75 Jahren machten. "Nur ihre Pflicht erfüllen" bedeutete damals für den Erhalt eines Terroregimes zu kämpfen.

Da stellt sich mir die Frage, woher ein 18-19 jähriger Soldat das 1944/45 so genau gewusst haben soll?
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 07 Mai 2020, 08:11:40
Diese Frage ist aber komplett unabhängig von meiner Aussage. Ich hatte schließlich geschrieben "unabhängig von der Einstellung des einzelnen".

Allerdings frage ich mich schon auch, wie jemand damals das nicht mitbekommen haben soll. Die Auswirkungen waren ja sehr konkret, ich denke, dass den meisten auch Fälle von Terror bekannt war (gegen Nachbarn, Kameraden etc.). Das damals allgegenwärtige Spitzelsystem dürfte den meisten bewusst gewesen sein, genauso wie das bestimmte "Sicherheitsorgane" und fanatische Offiziere eine sehr konkrete Bedrohung waren, wenn man etwas falsches gesagt hat. Die Fälle von Ermordungen von Regimegegnern oder einfach nur Leuten, die denen das vorgeworfen wurde, sind in den letzten Kriegsmonaten gestiegen - und vielfach wurden diese Leichen dieser Leute öffentlich zur Schau gestellt. Ich halte es also für sehr wahrscheinlich, dass den meisten bewusst war, in welchem System sie lebten - und welches Risiko es gab, wenn man sich gegen es stellte - sogar noch nach der Teilkapitulation wie in diesem Beispiel.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: M-54842 am 07 Mai 2020, 08:32:24
Ich hatte das Glück, solche Fragen mit meinem Großvater diskutieren zu können. Er hatte sich als 17-jähriger 1938 zur KM gemeldet. Als seefahrtbegeisterter Jugendlicher führte sein Weg über die Marine HJ und den RAD zur KM. Er hatte nicht das Gefühl und konnte dies durch seine Erziehung und seine Jugend auch kaum haben, sich einem Terrorregime zu verpflichten. Politische Ereignisse und Verbrechen wie in Großstädten spielten in der Provinz kaum eine Rolle.
Die Jahre 1940 bis 1945 waren geprägt durch ,,Fahrenszeit in außerheimischen Gewässern", wie er immer sagte. Ich denke, dass er auch in dieser Zeit relativ wenig von den Hintergründen wirklich mitbekommen hat. Und nicht zu vergessen, konnte er sich als Berufssoldat seinem Dienst ja auch nicht entziehen, selbst wenn er von den Verbrechen gewusst hätte.
Es ist schwierig, mit dem Wissen von heute über die damalige Generation zu urteilen. M.E. macht man es sich damit oftmals zu einfach. Und vor allem weiß keiner, wie er sich selbst in der konkreten Situation verhalten hätte.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 07 Mai 2020, 08:44:16
Ich habe aber oben nicht von irgendwelchen Hintergründen gesprochen, sondern von der sehr konkreten Bedrohung für jeden Einzelnen. Selbst jemand aus der Provinz kam, war diese Person auch mal in einer Großstadt, z.B. in einen Stützpunkt der Kriegsmarine - und selbst jemand aus der Provinz dürfte gemerkt haben, über was man reden darf und was nicht.

Natürlich konnte sich ein Soldat dem nicht so leicht entziehen. Wir haben hier ja das Beispiel von mehreren Matrosen, die es versuchten und dafür umgebracht wurden.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Spee am 07 Mai 2020, 09:02:11
Servus,

wie sah den die "konkrete Bedrohung" aus, wenn man als recht unpolitischer Deutscher in dieser Welt aufgewachsen ist? Man kannte in diesem Sinne keine andere, würde ich behaupten. Diese Soldaten sind mit dem Dritten Reich aufgewachsen, sie kannten nichts anderes. Sie haben nur erlebt, das es aufwärts ging, wirtschaftlich und für fast Jeden persönlich. Davor gab es Hungersnöte, wirtschaftliche Depression, Strassenkämpfe, Unruhen. Es gab Geschichten vom Krieg, von den Toten in der Familie, dem "Verrat an den Frontkämpfern", der "Knebelung" durch den Versailler Vertrag, den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Deutschland und die Menschen in dem Land, die ungeliebte Weimarer Republik. Das war alles vor 1933, danach das "neue" Deutschland, in dem man, wenn man halbwegs mitspielte ganz gut leben konnte. Für Viele auf jeden Fall besser als vorher.
Die sollen wirklich in aller Konsequenz ihren Missbrauch durch die Nationalsozialisten erkannt haben? Ich bezweifle das.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Hastei am 07 Mai 2020, 09:14:03
das sehe ich auch so

Gruß Hastei
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 07 Mai 2020, 09:25:45
Na ja, diese Soldaten haben mitbekommen, dass alles bergab ging, immer mehr zerstört wurde, Lebensmittel immer knapper wurden, an allen Fronten es Niederlagen hagelte und dass wenn man etwas falsches sagte, dass sehr schnell üble Konsequenzen für einen selbst haben konnte - bis hin eben zum Standgericht.

Ein Soldat, der 1944/45 18 oder 19 war, ist sicher in diesem Regime aufgewachsen - aber das bedeutet ja trotzdem, dass sie es mitbekommen haben. Dazu muss man sagen, dass sie bewusst (in Bezug auf ihr Alter!) sehr viel mehr von dem Niedergang mitbekommen haben, als von irgendwelchen Problemen aus der Zeit vor 1933, da sie damals noch Kinder waren.

Aber noch einmal: mein Punkt war ein anderer: diese Leute haben, ob ihnen das bewusst war oder nicht, für ein Terroregime gekämpft. Damit will ich nicht jedem einzelnen dieser Leute einen Vorwurf machen. Warum schreibe ich sonst das "unabhängig von ihrer Einstellung"?

Das war in Reaktion auf jemanden geschrieben, der sich über den Begriff "Nazi-Deutschland" echauffierte.

Bei Zeitzeugen sollte man übrigens allgemein vorsichtig sein. Das menschliche Gedächtnis verändert sich über die Zeit. D.h. jemand erinnert sich nach 75 Jahren nicht an das, was wirklich damals passiert war, sondern gibt den aktuellen Zustand dieser Erinnerung wieder, die über die Jahrzehnte sich massiv verändert haben kann. Es sollte offensichtlich sein, dass es viele Gründe gibt über diese Ereignisse und die eigene Rolle dabei nachzudenken - und dieses Nachdenken verändert die Erinnerung. Das ist übrigens nicht in der Hinsicht gemeint, dass sich jemand bewusst alles schön denkt. Das ist in der Hinsicht gemeint, dass solche Erinnerungen extrem unzuverlässig sind. Das gilt übrigens nicht nur für Erinnerungen nach Jahrzehnten, sondern selbst kurz nach einem Ereignis können Erinnerungen bereits stark verzerrt sein.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Spee am 07 Mai 2020, 09:41:06
Servus,

das Zeitzeugen mit Vorsicht zu betrachten sind, ist verständlich. Viele haben sich nach dem Krieg eine andere Betrachtung ihres Verhaltens unterzogen, was der Wahrheit mit Sicherheit nicht immer entsprach. Aber es war m.E. eben auch ein Ansatz das Erlebte in irgendeiner Art zu verarbeiten und der Versuch mit sich ins Reine zu kommen, halbwegs. Es war auch keine Zeit, lang darüber nachzudenken, da standen andere Dinge im Vordergrund, die wichtiger waren.
Ich denke, es ist aus heutiger Sicht sehr schwierig, die damalige Generation der ca. 20 Jährigen in ihrem Tun und Handeln zu verstehen und damit wird es schwer, sie zu be- oder verurteilen.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Big A am 07 Mai 2020, 09:57:08
ZitatEs ist schwierig, mit dem Wissen von heute über die damalige Generation zu urteilen. M.E. macht man es sich damit oftmals zu einfach. Und vor allem weiß keiner, wie er sich selbst in der konkreten Situation verhalten hätte.

Zitat
Ich denke, es ist aus heutiger Sicht sehr schwierig, die damalige Generation der ca. 20 Jährigen in ihrem Tun und Handeln zu verstehen und damit wird es schwer, sie zu be- oder verurteilen.

Und genau das ist der Punkt!  Ja, sie haben in der ex-post-Betrachtung einem Terrorregime gedient aber waren sie sich dessen wirklich bewusst? Es gab kein Internet, keine freie Berichterstattung wie auch immer, keinen Austausch mit der (sehr kleinen) "Elite" der Andersdenkenden.

Meine Mutter (Jahrgang 30) erzählt heute noch, dass sie sich dafür schämt im Krieg gesagt zu haben, wenn der Führer nicht mehr lebe wolle sie auch tot sein. Sie wusste es ja nicht besser.
Ich empfehle mal einen Besuch der Gedenkstätte Vogelsang in der Eifel (https://vogelsang-ip.de/de/startseite.html) wo einem klar gemacht wird wie die herrschende Clique die jungen Menschen verführte, belog, benutzte.

Wer jahrelanger Gehirnwäsche ausgesetzt ist kann nicht frei denken.
(aktuelles Beispiel wäre die Volksrepublik Korea; die dort lebenden "normalen" Menschen sind - nach Allem, was über die in seriöser Berichterstattung dokumentiert ist - auch nicht der Meinung, einem Terrorregime zu dienen!

Just my 5 ct

Axel
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Axel Niestlé am 07 Mai 2020, 10:17:11
Zitat von: M-54842 am 06 Mai 2020, 20:20:17
Das es auch Offiziere gab, die menschlich und mit Verstand reagierten, hat Gerrit Reichert in seinem Buch „U 96 Realität und Mythos“ dokumentiert. Dort heißt es auf Seite 137:
„Mein Name ist Dr. Koreuber, ich war einer der Ärzte, die damals den U-Booten wegen der hohen Fliegerverluste zugeteilt wurden. Als ein Kollege und ich in Bergen auf ein U-Boot sollten, hielten wir das für sinnlos und sprachen offen darüber. Wir wurden denunziert, es kam zu Standgericht und Urteil. Nach kurzer Beratung von Obersten Gerichtsherrn und Beisitzern wurden wir zum Tode durch Erschießen verurteilt. Nach Verkündung bat der Gerichtsherr die Beisitzer, den Raum zu verlassen, um noch ein letztes Wort mit den Delinquenten zu sprechen. Wir saßen natürlich da wie vor den Kopf geschlagen. Der Gerichtsherr war Ihr Vater, Heinrich Lehmann-Willenbrock. Er ließ seine Ordonnanz drei Gläser mit Cognac bringen, diese gehen und sagte, nachdem er uns hatte davon trinken lassen: Meine Herren, Sie wissen, dass ich nicht anders konnte, als Sie zum Tode zu verurteilen. Aber Sie sollten auch wissen, dass sämtliche Todesurteile in Berlin unterschrieben werden müssen. Und manche Post geht von Berlin nach Bergen verloren. Auf ihr Wohl! So war Ihr Vater. Nur durch ihn sitze ich hier vor Ihnen.“


Tolle Geschichte! Aber leider wohl nur reine Phantasie des Protagonisten, da die genannten Vorgänge sich nicht mit der damaligen Wirklichkeit in Einklang bringen lassen.

Aber sei es drum. Der Threat ist ohnehin zum Glaubenskrieg für einige selbsternannte Besserwisser verkommen. Deshalb ein ehrliches "Sorry" an Dich, lieber Urs, dass ich Deinen gutgemeinten Post auf die falsche Route gelenkt habe. 

Axel
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 07 Mai 2020, 10:49:17
Wer es selbst aus heutiger Sicht nicht besser weiß, hat nun mal wirklich ein Problem ;)
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Spee am 07 Mai 2020, 11:44:43
Servus,

was genau weiß man den heute besser?
Stellt sich nicht die Frage, aus welchen Motiven eine Fahnenflucht begangen wurde? Oder ist Fahnenflucht 1945 grundsätzlich eine "Widerstandsaktion"? Würde man einen im Hinterland plündernden, mordenden Soldaten, und diese Fälle gab es, der sich vorher heimlich von der Truppe abgesetzt hat als "Widerstandskämpfer" betrachten? Oder ist das nicht Fahnenflucht aus niedersten Beweggründen?
Ist diese Art der Fahnenflucht mit der Bootsbesatzung gleichzusetzen, die sich im Mai 1945 nach Schweden absetzt, um ihr Leben zu retten?
Ich denke, selbst die Frage der Fahnenflucht im Dritten Reich sollte nicht pauschal als "Widerstand" betrachtet werden, sondern muss einer Fallanalyse unterzogen werden.
Daher kann ich mich Axels Meinung auch durchaus anschließen, das nicht jede Entscheidung in dieser Zeit so einfach beurteilt werden kann und sollte.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Hastei am 07 Mai 2020, 11:58:14
 :MG:
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 07 Mai 2020, 14:04:53
Zitat von: Spee am 07 Mai 2020, 11:44:43
Stellt sich nicht die Frage, aus welchen Motiven eine Fahnenflucht begangen wurde? Oder ist Fahnenflucht 1945 grundsätzlich eine "Widerstandsaktion"?
Fahnenflucht ist 1945 sicher grundsätzlich eine vernünftige Entscheidung gewesen, aber wir wissen natürlich nicht in jedem Fall, warum jemand sich dafür entschieden hat. Wenn niemand davon überlebt hat, wird es sicher noch schwieriger, die Motive nachzuvollziehen.

Im Falle der Meuterei geht es aber um mehr: diese Leute sind nicht einfach abgehauen, sondern haben sich offen gegen ihre Offiziere gestellt. Das ist schon eine sehr bewusste, sehr klare Handlung (aber natürlich keine Aussage über die Motive). Eine Widerstandshandlung ist das sicher - insbesondere, wenn man bedenkt, was alles als Widerstandshandlung gilt.

ABER: Axels Kommentar bezog sich auf etwas anderes, auf etwas, das man heute natürlich besser weiß. Es ist ja nicht so, dass die Diskussion hier zwischen Leuten auf dem Wissensstand vom Mai 1945 und welchen vom Mai 2020 stattfindet. Sondern alle hier sind auf dem Wissensstand von 2020. D.h. niemand kann sich hier hinter dem Wissensstand vom Mai 1945 "verstecken".

Übrigens wegen dem damaligen Wissen: die Auswertung der heimliche Abhören von deutschen Soldaten, die 1942-45 als Kriegsgefangene in den USA waren, hat sehr wohl ergeben, dass viele damals auch viel über das größere Bild wussten. Also nicht nur über die persönlichen Gefahren, wenn sie offen zu den falschen Leuten redeten, sondern auch über den Holocaust und andere Verbrechen. Es gibt dazu eine Studie: "Kameraden. Die Wehrmacht von innen" von Felix Römer. Römer hat diese Abhörprotokolle ausgewertet. Das ist eine Auswertung von zeitgenössischen Dokumenten, nicht Hörensagen 75 Jahre später.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Spee am 07 Mai 2020, 15:30:41
Servus,

ich kenne das Buch und es bestätigt mir nur meine Meinung. Einige wussten etwas, andere nicht. Einige hatten dies und jenes gehört, andere nicht, viel Gerüchteküche dabei.
Das lässt m.E. aber keinen Rückschluss zu, das alle über alles oder vieles informiert waren.
Und selbst bei dem Thema Meuterei werde ich nicht allen Teilnehmern eine Absolution erteilen. Ich kann einen 17 Jährigen verstehen, der einfach Angst um seine Gesundheit und sein Leben hat, das ist für Jeden nachvollziehbar. Ich kann jeden Soldaten verstehen, der nur noch nach Hause wollte, um nach seiner Familie zu sehen, jeden Landser, der sich auf dem Rückzug nach Westen abgesetzt hat, um nicht den Russen in die Hände zu fallen. All das ist verständlich. Aber es gab eben auch Fälle, da ging es nur um den eigenen Vorteil, da sind z.T. auch ehemals stramme Nationalsozialisten aus Feigheit abgetaucht bzw. haben sabotiert oder gemeutert. Spricht es diese Personen frei, das sie in einer Diktatur der Meuterei angeklagt wurden?
Es wäre für mich in diesem Sinne wirklich interessant zu wissen, ob ein Meuterei aus persönlichen Gründen als Widerstand gegen eine Diktatur deklariert werden kann, wenn offensichtlich der eigene Vorteil der Antrieb ist? Ist das juristisch haltbar?
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 07 Mai 2020, 16:14:07
Niemand hat behauptet, dass alle über alles informiert waren. Das Buch zeigt aber recht deutlich, dass es ein Mythos ist, wenn behauptet wird, dass die Soldaten von den Verbrechen nichts wussten.

Geht es jetzt um diese konkrete Meuterei oder irgendwelche fiktiven Fälle?

Stauffenberg war auch mal überzeugter Nazi, hat seine Meinung aber geändert. Was sagt das jetzt?

Warum werden diesen Meuterern jetzt bestimmte Motive unterstellt (nur das eigene Leben retten etc.), aber wenn es um andere Soldaten geht, beschwerst du dich darüber, dass man schreibst, dass sie objektiv unabhängig von ihrer Einstellung für ein Terrorregime gekämpft haben? Für mich klingt das nach zwei sehr merkwürdigen Maßstäben - und zwar einen sehr strikten in Bezug auf die Meuterer und einen sehr entschuldigen, wenn es um die geht, die weiter kämpften.

Ob jemand Widerstand oder nicht geleistet hat, ist eine historische, keine juristische Frage. Und im Vergleich zu diesen Meuterern gibt es Aktionen, insbesondere des "konservativen Widerstands", die als Widerstand bezeichnet werden, obwohl sie für das Regime und die Widerständler keinerlei Folgen hatten. Das ist hier offensichtlich anders.

Juristisch im Unrecht waren offensichtlich die Offiziere des Minensuchers und die, die dessen Einsatz angeordnet haben - sie haben die Kapitulationsbedingungen verletzt.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Hastei am 07 Mai 2020, 16:21:37
Ich kam mal vor langer Zeit mit einem Deserteur ins Gespräch.
Sein Grund :" ich hatte die Schnauze einfach voll, ewig Hunger und dann die Kälte " Das hatte also nichts mit Widerstand und Ablehnung des Regiems zu tun.
Ich persönlich finde, (auch wenn Ihr mich jetzt in der Luft zerreisßt ), ein Deserteur haut ab und läßt seine Kameraden im Stich.(und nicht nur das ). Das sind pers. Gründe. Sehr wohl ist mir bewußt, das ich jetzt hier im warmen Raum sitze und alle über einen Kam schere. Auch versuche ich zu verstehen, dass einer kurz vor Kriegsende nicht noch auf der Strecke bleiben will, aber einfach abhauen und seine Kameraden zurücklassen, nee, finde ich nicht gut.

Gruß Hastei
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Spee am 07 Mai 2020, 16:56:39
Servus,

Warum werden diesen Meuterern jetzt bestimmte Motive unterstellt (nur das eigene Leben retten etc.), aber wenn es um andere Soldaten geht, beschwerst du dich darüber, dass man schreibst, dass sie objektiv unabhängig von ihrer Einstellung für ein Terrorregime gekämpft haben? Für mich klingt das nach zwei sehr merkwürdigen Maßstäben - und zwar einen sehr strikten in Bezug auf die Meuterer und einen sehr entschuldigen, wenn es um die geht, die weiter kämpften.

Ich setze gar keine Maßstäbe.
Meuterei geschieht immer aus irgendwelchen Motiven, das ist keine Unterstellung sondern Realität. Wenn Soldaten ihr Leben retten wollen, dann ist das ein Motiv, keine Unterstellung, oder? Und genau aus dem Grund muss man fragen und unterscheiden, welche Motive zu einer Meuterei führten und dann klären, ob "richtig" oder "falsch". Das ist m.E. ganz klar eine juristische Frage.
Wo ist da bitte der "merkwürdige" Maßstab?


Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 07 Mai 2020, 17:17:05
@ Spee: Die Unterstellung ist, dass die Meuterer "nur" ihr Leben retten wollten, gar frühere überzeugte Nazis gewesen seien, Saboteure etc. Du kennst aber die Motive nicht. Richtig? Hier gehst du von dem "schlimmsten" aus, aber bei Soldaten, die weiter für das Regime kämpften, vom "besten". Oder verstehe ich da etwas falsch?


@ Hastei: Hier ging es um eine Meuterei, in der ein nennenswerter Teil einer Schiffsbesatzung GEMEINSAM die Aktion der Offiziere stoppen wollte. Die sind nicht davon gelaufen, sondern haben gemeinsam gehandelt. Die haben niemanden zurück gelassen.

"ich hatte die Schnauze einfach voll, ewig Hunger und dann die Kälte" im Falle des Deserteurs ist sicher keine Motivation, die man als große Widerstandsaktion bezeichnen könnte. Aber das sind logische, verständliche Motive, die sehr viel Sinn machten. Sinnvolle Motive derer, die weiter für Nazi-Deutschland kämpften (und zwar egal, ob sie das bewusst oder sonst irgendwie machten), sind schon sehr viel schwieriger zu finden. Das Weiterkämpfen hat das Weiterbestehen zeitweise gesichert, also auch, dass sehr viel mehr deutsche Soldaten umkamen. Die meisten kamen in den Kämpfen gegen Kriegsende um.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Arche am 07 Mai 2020, 17:24:36
Hallo zusammen,

vielleicht hat Axel auch mich gemeint, der hier mit Besserwisserei auffällt. Für ist es so. Wenn wir beide die Akte lesen, dann haben wir einfach jeder für sich einen anderen Blickwinkel und ein anderes Ziel. Ich würde ihn aber gerne Fragen, wenn ich etwas nicht verstehe oder wenn ich etwas wissen möchte. Der Blickwinkel der Jüngeren wird sich immer ändern, je weiter die Zeit läuft. Jüngere ändern heutzutage schnell mal die Seite und wir wundern uns dann über Demos, wo ganz rechts und ganz links gemeinsame Sache machen. Die jungen Menschen sollten immer ein Recht haben, Fragen zu stellen. Soweit es möglich ist, sollte dann ein Forum auch Antworten geben.

Das Urs dieses Thema hier eingestellt hat, fand ich sehr erfreulich, da mich erst vor ein paar Wochen mit M 612 beschäftigt habe.

Der Grund war sicherlich, dass es sich um einen Fall kurz vor Kriegsende handelte und es für viele ein Kriegsverbrechen war. Die juristische Aufarbeitung ergab aber, es war kein Verbrechen und die Aburteilung der Marinesoldaten wegen Meuterei und Aufruhr war korrekt. Keiner der Beteiligten hat sich später öffentlich mit seiner Rolle auseinandergesetzt und hat der nachfolgenden Generation etwas mit auf dem Weg gegeben. Wie in unsere Gesellschaft üblich, hilft man sich später mit bestehenden Aktenmaterial. Forschende kommen dabei sicherlich zu unterschiedlichen Ergebnissen. Grundsätzlich hatten wir aber vor einiger Zeit den Hinweis, dass Jüngere hier nicht abgekanzelt werden sollen, weil sie die Dinge u.a. auch vereinfacht darstellen. So sollte es bleiben.

Wir sind hier schnell wieder bei dem Thema Fahnenflucht gelandet. Da gibt es ja Forschungen und es wurde festgestellt, dass die meisten Soldaten aus Angst vor Strafe abgehauen sind. Das heisst, sie haben etwas angestellt (Diebstahl, Kameradendiebstahl, Unterschlagung, persönliche Gründe). Der Grundgedanke "Einer für alle-alle für einen" wurde ignoriert und das "Ich" in Vordergrund gestellt. Dieser Kerngedanke des Soldatentums steht immer ganz vorne. Wenn man jetzt Gerichtsakten liesst, dann weiß man was der Ankläger will, aber man weiß nie, wie zum Beispiel die Beisitzer wirklich dachten und schon gar nicht die, die das Exekutionskommando stellten, dass ja in der Regel aus dem letzten Kommando des zum Todeverurteilten bestand. Ich habe bis jetzt nur eine Biographie gelesen, wo sich der Autor (U-Bootfahrer), dem Thema gestellt hatte, da selbst dazu berufen wurde.

Vermutlich meint Axel dies. Solche Themen finden nie ein Ende, da sie existentiell sind.
Heinz-Jürgen
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 07 Mai 2020, 17:37:12
Welche juristische Aufarbeitung meinst du? Die von 1949? Die deutsche Justiz wurde nie wirklich entnazifiziert, der Anteil von Richtern, die mal ein NSDAP-Parteibuch hatten, stieg in der Nachkriegszeit sogar. Das änderte sich erst, als diese Generation dann in Rente ging. Es ging kein Zufall, dass ein Großteil der Aufarbeitung der Zeit erst in den letzten 40, eher 20 Jahren erfolgte.

Laut der aktuellen Gesetzeslage ist das Urteil vom Mai 1945 zu Unrecht erklärt worden und die Opfer wurden 2009 rehabilitiert.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Spee am 07 Mai 2020, 17:43:29
Servus,

@ Spee: Die Unterstellung ist, dass die Meuterer "nur" ihr Leben retten wollten, gar frühere überzeugte Nazis gewesen seien, Saboteure etc. Du kennst aber die Motive nicht. Richtig? Hier gehst du von dem "schlimmsten" aus, aber bei Soldaten, die weiter für das Regime kämpften, vom "besten". Oder verstehe ich da etwas falsch?

Ah, ich verstehe deine Zeilen.
Nein, ich unterstelle nicht jedem Meuterer grundsätzlich Negatives. Ich wollte nur darauf hinweisen, das es aus meiner Sicht nicht richtig ist, pauschal jedem Meuterer nur weil er in einer Diktatur gemeutert hat, einen Freispruch zu gewähren, weil es ja eine Widerstandshandlung sei. Das geht m.E. daneben.
Weiterkämpfen?! Ja, gute Frage. Weil man seine Familie in Gefahr sah, sein Leben schützen wollte. Wer weiß das so genau? Sind es nicht z.T. ähnliche Motive gewesen, die Soldaten zum Weiterkämpfen oder Desertieren gebracht haben. Die Einen aus Angst vor dem Sterben, die Anderen aus Angst vor der Gefangenschaft (speziell in der Sowjetunion). Ich denke, auch das  Weiterkämpfen hatte eine eigene Logik. die nicht zwingend nur darin bestand, den Nationalsozialismus am Leben zu halten.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 07 Mai 2020, 17:59:58
Zitat von: Spee am 07 Mai 2020, 17:43:29
Ich denke, auch das  Weiterkämpfen hatte eine eigene Logik. die nicht zwingend nur darin bestand, den Nationalsozialismus am Leben zu halten.
Sicher, es gab noch andere Gründe, z.B. um die Gefangenschaft zu vermeiden - und das war sicher ein guter Grund, insbesondere, wenn man bedenkt, wie die Wehrmacht sowjetische Kriegsgefangene (seit 1941, siehe Kommissarbefehl) behandelt hat und dass Rache wahrscheinlich war.

Dann sollte man aber Leuten, die Offiziere daran hindern wollten, einen Einsatz zu fahren, obwohl eigentlich schon die Kapitulation erfolgt war, tendenziell mal recht geben. Es geht hier um diesen konkreten Fall. Und nicht um "pauschal jedem Meuterer".

Der pauschale Freispruch von 2009 erfolgte nicht deshalb, weil alles Widerstandshandlungen waren, sondern weil diese Leute gezwungen waren, für ein Unrechtsregime zu kämpfen.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Spee am 07 Mai 2020, 18:58:30
Servus,

Dann sollte man aber Leuten, die Offiziere daran hindern wollten, einen Einsatz zu fahren, obwohl eigentlich schon die Kapitulation erfolgt war, tendenziell mal recht geben. Es geht hier um diesen konkreten Fall. Und nicht um "pauschal jedem Meuterer".

In diesem konkreten Fall halte ich das Urteil für falsch.
Erstens durfte das Boot laut Kapitulationsbedingungen nicht mehr auslaufen, damit hat sich der Kommandant über die Befehle seine obersten Vorgesetzten gesetzt. Faktisch "Befehlsverweigerung" und damit wäre der Kommandant vor ein Gericht zu stellen (ja, ich weiß das da Viele weggesehen haben und Fahrten unternommen wurden).
Zweitens, auch wenn die Gerichtsbarkeit der Kriegsmarine noch Gültigkeit hatte, bezweifle ich, das Todesurteile nach einer Kapitulation so ausgesprochen werden durften. Man hätte die Meuterer festsetzen können, damit wäre der Gerichtsbarkeit vorerst Genüge getan. Über ein Gerichtsverfahren wäre zu einem späteren Zeitpunkt mit den Alliierten eine Entscheidung zu suchen. Die Urteile ware völlig überzogen und unnötig, da keiner der an Bord Festgesetzten zu Schaden kam und eine weitere Fahrt nach Kurland von zweifelhaftem Ergebnis. In diesem Sinne kann ich eine Auflehnung (um nicht den Begriff Meuterei permanent zu verwenden) durchaus nachvollziehen.
Grundsätzlich sind solche Standgerichte in meinen Augen nur ein Zeichen von Schwäche und erbärmlich, Todesurteile sowieso abzulehnen. Man kann das auch gern mit der Kaiserlichen Marine vergleichen, die trotz Aufständen 1917 nur 2 Todesurteile vollzog, was man im Nachhinein auch als unnötig ansah.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Axel Niestlé am 07 Mai 2020, 21:42:19

[/quote]
Zitat von: Arche am 07 Mai 2020, 17:24:36
Hallo zusammen,

vielleicht hat Axel auch mich gemeint, der hier mit Besserwisserei auffällt.

Nein, ganz sicher nicht! Dafür schätzen wir die Arbeit des anderen zu sehr.

Mit den besten Grüßen

Axel Niestlé
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Spee am 08 Mai 2020, 11:37:59
Servus,

hmm... ich bin jetzt wirklich ins Grübeln geraten und würde gern die Meinung von Anderen dazu hören.

Wenn der Oberbefehlshaber ab einem gegeben Zeitpunkt befiehlt, das sämtliche Handlungen einzustellen sind, dann wäre doch eine Fahrt wie im gegebenen Fall eine Befehlsverweigerung. Wenn dann eine Gruppe von Matrosen dagegen vorgeht, könnte man dieses Vorgehen doch als einen Versuch werten, den Befehl des Oberbefehlshabers durchzusetzen.
Ich weiß, das klingt gerade sehr konstruiert, aber m.E. kann man doch nicht auf die Durchführung von Befehlen pochen, wenn dabei ein höher gesetzter Befehl missachtet/gebrochen wird. Oder liege ich da komplett daneben?
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: jockel am 08 Mai 2020, 11:48:57
DER SPIEGEL am 12.09.1966  Menschlich bedrückend (https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46414282.html)

Gruß
Klaus
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Arche am 08 Mai 2020, 11:52:35
Hallo zusammen,

Axel: Danke!

maxim: ich bin noch eine Antwort schuldig. Auf Antrag wurde direkt nach Kriegsende beim Marinegericht der Auffangstelle Flensburg-Mürwik über die Wiederaufnahme von Verfahren entschieden. Das Ergebnis war u.a., dass ein Verfahren eingestellt wurde oder das alte Urteil wurde aufgehoben, wenn Gründe dafür vorlagen. Dies galt in der Regel für Verfahren mit schneller Urteilsfindung. Bei Standgerichtsurteilen wurden in der Regel immer Verfahrensfehler begangen, um z.B eine Wiederaufnahme zu erreichen. In unseren Fall der Meuterei hätten dies die vier Marinesoldaten, die Zuchthausstrafen erhielten, erreichen können. Natürlich wurden Wiederaufnahmeverfahren auch abgelehnt, soweit es keine ersichtlichen Verfahrensfehler vorlagen. Typisch wäre zum Beispiel, dass es keine Zeit gab, mit dem zugeordneten Anwalt zu sprechen.

PS. In Berlin ist heute Feiertag. Ich gehe gleich zu einer kleinen Gedenkfeier hier auf dem Friedhof Baumschulenweg. Hier liegt ein Major der Wehrmacht begraben, der 1943 hingerichtet wurde, weil er für Juden Pässe gefälscht hat.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 08 Mai 2020, 12:08:29
moin,

Zitat von: Spee am 08 Mai 2020, 11:37:59
Wenn der Oberbefehlshaber ab einem gegeben Zeitpunkt befiehlt, das sämtliche Handlungen einzustellen sind, dann wäre doch eine Fahrt wie im gegebenen Fall eine Befehlsverweigerung. Wenn dann eine Gruppe von Matrosen dagegen vorgeht, könnte man dieses Vorgehen doch als einen Versuch werten, den Befehl des Oberbefehlshabers durchzusetzen.
Ich denke, der OBdM hat selbst unsichere Befehlslage herbeigeführt.
Es galten die Bestimmungen der Teilkapitulation, siehe
https://en.wikipedia.org/wiki/German_surrender_at_L%C3%BCneburg_Heath#The_Instrument_of_Surrender (https://en.wikipedia.org/wiki/German_surrender_at_L%C3%BCneburg_Heath#The_Instrument_of_Surrender)
Anmerkung: Die Bedingung, nicht auszulaufen und Schiffe nicht zu versenken (U-Boote!) finde ich hier nicht; ich nahm bisher an, sie stünde mit im Text.

Gleichzeitig bestand die Weisung, die Evakuierungsfahrten fortzusetzen, weiter.

Jetzt kommt die juristische Spitzfindigkeit: Für alle Schiffe im Ostseebereich, die sich am 5.5., 08:00 außerhalb der deutschen oder dänischen Hoheitsgewässer befanden, galten die Bedingungen der Teilkapitulation nicht.

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Spee am 08 Mai 2020, 13:18:39
Servus Urs,

danke!

Jetzt kommt die juristische Spitzfindigkeit: Für alle Schiffe im Ostseebereich, die sich am 5.5., 08:00 außerhalb der deutschen oder dänischen Hoheitsgewässer befanden, galten die Bedingungen der Teilkapitulation nicht.

Unter der Bedingung, daß damit der Marsch von Marineeinheiten von Ost nach West noch möglich bleibt, nachvollziehbar. Aber in die Gegenrichtung? Lag der Minensucher nicht innerhalb von besagten Hoheitsgewässern?
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 08 Mai 2020, 13:34:08
Er soll um 8 Uhr aus Fredericia ausgelaufen sein - also war er um 8 Uhr noch in dänischen Hoheitsgewässern.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 08 Mai 2020, 14:08:59
moin,

durch die letzten Beiträge wure ich daran erinnert, daß ein kleiner aber wesentlicher Teilaspekt bisher nicht erwähnt wurde:
Ein Kommandant kann von den gegebenen Befehlen abweichen, wenn er meint, dadurch im Sinne der Erreichung eines größeren Ziels zu handeln. Er muß sich anschließend (u.U. vor einem Kriegsgericht) dafür verantworten, aber er kann das tun. Das zeichnet diese im Militärischen besondere (und einsame) Position aus.
Und noch einmal wiederholt: Solange dieses Handeln keine Straftat (wie Mord usw.) beinhaltet, besteht für die Besatzung eine Pflicht zum Gehorsam.

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: maxim am 08 Mai 2020, 14:16:07
Aber nach einer Kapitulation?!
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Urs Heßling am 08 Mai 2020, 14:24:29
moin, maxim,

solange die Wehrmacht als Institution nicht aufgelöst war: ja

Es gab in der Vergangenheit viele Truppen, die kapituliert haben, aber meines Wissens war damit nie eine Aufhebung deren innerer Struktur, sprich Kommando- und Disziplinargewalt verbunden.

Zu Deinem Thema der erschreckend mangelhaften Aufarbeit von Verfahren durch die von (ehemaligen) Nationalsozialisten durchsetzte Justiz nach 1945 (da stimmen wir voll überein) gibt es ein besonders bedrückendes Beispiel: https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4nner_von_Brettheim (https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4nner_von_Brettheim)

Gruß, Urs
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Spee am 08 Mai 2020, 14:39:44
Servus,

ich denke, egal ob Kapitulation oder nicht, der Kommandant ist für das Schiff/Boot solange verantwortlich, bis neue Befehle/Anweisungen eintreffen, die das weitere Vorgehen klären.
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: Hastei am 09 Mai 2020, 00:10:05
vielleicht passt es hier nicht rein, aber mich würde mal interessieren, ob  es Racheakte gab gegen Denunizianten, oder andere Personen, die bis zuletzt Todesstrafen verhängten ?

Gruß Hastei
Titel: Re: Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht
Beitrag von: großneffe am 09 Mai 2020, 14:14:53
Zitat von: Urs Heßling am 08 Mai 2020, 14:24:29
moin, maxim,

solange die Wehrmacht als Institution nicht aufgelöst war: ja

Es gab in der Vergangenheit viele Truppen, die kapituliert haben, aber meines Wissens war damit nie eine Aufhebung deren innerer Struktur, sprich Kommando- und Disziplinargewalt verbunden.

Zu Deinem Thema der erschreckend mangelhaften Aufarbeit von Verfahren durch die von (ehemaligen) Nationalsozialisten durchsetzte Justiz nach 1945 (da stimmen wir voll überein) gibt es ein besonders bedrückendes Beispiel: https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4nner_von_Brettheim (https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4nner_von_Brettheim)

Gruß, Urs

Wie hilflos müssen sich die Angehörigen gefühlt haben und welche Wut und Rache hat sich da aufgestaut. Für uns heute unvorstellbar. Darum sollte der 8. Mai immer ein Gedenktag gegen das Vergessen bleiben.