FTB-ROA-Lehrgang Flensburg- Mürwik 1945

Begonnen von Seekrieg, 13 Januar 2012, 17:55:35

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Seekrieg

Unspektakulärer Bericht vom FTB-ROA-Lehrgang Flensburg- Mürwik 1945
•   Die gekennzeichneten Abschnitte sollen den Zeitabschnitt charakterisieren und ergänzen. Sie sind willkürlich ausgewählt und können die damalige Situation niemals vollständig darstellen!

Die Politik ist das Schicksal.
                              
Napoleon I.

1. Von Lehrgang zu Lehrgang


06. Januar 1945, Sa. Flensburg-Mürwik
Um 20 Uhr kommen wir von Stralsund in Flensburg-Mürwik an. Uns stehen drei Monate Lehrgang mit Grundüberholung und Weiterbildung auf dem Gebiet der Nachrichtentechnik bevor.

07. Januar 1945
Sonntag. Es schneit. Still und geruhsam schweben die großen Flocken hernieder. Leicht verfangen sie sich im dunklen Geäst der kahlen Bäume. Flink überziehen sie mit ihrer lockeren, wattigen Fülle Dächer, Masten und Zäune und bedecken Straßen, Plätze und Fluren mit einem weichen, belebenden Weiß. Die Landschaft erhält ein neues Gewand. Die dunklen Schatten werden gemildert. Das Düstere verschwindet. Unwirklich erscheinen die Dinge jetzt, verklärt, fast schwerelos. Leuchtend strahlen sie zurück und nehmen auch uns Menschen etwas von unserer sonstigen Schwere. Die Seele lockert sich auf. Tief möchte man aufatmen und sich einmal von Herzen freuen. Wie lange hat man das nicht getan!
Als Junge rannte ich jedes Jahre den ersten kleinen Schneeflocken, die vom Himmel fielen, mit dem Vergrößerungsglas hinterher und freute mich an der kunstvollen Kristallstruktur jeder einzelnen. Als Junge hatte man Zeit dazu, Zeit für die Dinge und Zeit, sich zu freuen.
Wir Erwachsenen haben keine Zeit mehr, weder für die Dinge noch für die Freude. Vielleicht ist das überhaupt das Charakteristische, das Kennzeichen des Erwachsenseins. Wir Großen sind immer in Eile, stets auf der höchsten Tourenzahl, und dieses Jagen durch die Tage ist uns schon so in Fleisch und Blut übergegangen, daß uns eine langsamere Gangart gar nicht mehr bekommt und jedes Verweilen ärgerlich stimmt. Wer aber wollte sich dann noch ver-wundern, daß in der Zugluft dieser Hast keine Wärme, keine Freude aufkommen kann.
Heute ist Sonntag. Es soll ein Sonntag bleiben, ein Ruhetag zwischen zwei Lehrgängen. Ich werden einen Spaziergang durch das alte, still verschneite Flensburg unternehmen und tun, als ob, tun, als ob alles so wäre, wie es von Rechts wegen sein müßte. -
Flensburg ist die zentrale ,,Schmiede" für deutsche Marineoffiziere. 1910 wurde die Marineschule für den Offiziersnachwuchses der kaiserlichen Marine errichtet. Marinebaumeister Kelm lehnte sich mit seinem Entwurf an das gewaltige Hochschloß der preußischen Ordens-ritter, die Marienburg an. Dem Mittelbau mit dem dominanten, eckigen Turm ist eine Terrasse vorgelagert. Von der Förde aus gesehen wirkt die Marineschule mit den wuchtigen, weit vorspringen Seitenflügeln eher wie ein Schloß. Hier werden Fähnriche, Offiziersanwärter und seemännische Unteroffiziere, die Maate, ,,geformt".
In der Marineschule ist auch die Stammkompanie stationiert, sowie eine Nachrichtenkompa-nie.
Im Frieden verbrachte der angehende Marineoffizier hier etwa sieben Monate seiner dreijährigen Ausbildung. Er verließ die Marineschule mit dem Bestehen der Offiziershauptprüfung.
Begonnen hatte es 1903. Damals entstand die Torpedostation Mürwik. Das Torpedo-Schulschiff, die alte ,,Württemberg", lag in der Förde.
1910 verlegte man auch die Schiffsjungendivision auf dem Schiffsjungen-Schulschiff "König Wilhelm" von Kiel nach Mürwik.
Nach und nach wurde gesamte Bildungswesen der kaiserlichen Marine nach Mürwik verlegt. Das hatte natürlich Einfluß auf das öffentliche Leben und die Entwicklung der Stadt Flensburg. Bestand Mürwik früher nur aus einigen Häusern, so bekam es mit der Errichtung der Marineschule ein städtisches Aussehen.
Mittlerweile haben am Ort Generationen von Marineoffizieren ihr Rüstzeug für diesen Beruf erhalten. Die Sportschule für Lehrgänge zum körperlichen Training befindet sich nördlich der Marineschule.
Flensburg-Mürwik ist auch Standort der Marine-Nachrichtenabteilung sowie der Marine-Nachrichtenschule. Sie bildet Spezialisten der Nachrichten-laufbahnen aus. Die Soldaten der Funk- und Signallaufbahn verlassen nach dem Erlernen des Umgangs und Gebrauchs der Signalmittel als Funker, Signalgasten und Fernschreiber die Schule.
•   Die Bomben der Alliierten treffen mittlerweile die Städte im hintersten Winkel des Reiches.

8. Januar 1945, Mo.                                                         
Pünktlich wie vorgesehen beginnt um 08.30 Uhr unser Lehrgang. Das muß man der Marine-Nachrichten-Schule Mürwik lassen: Sie kennt keinen Leerlauf. Hier stehen Planung, Wirklichkeit und Ablauf tatsächlich in Übereinstimmung.
Unsere Quartiere lagen vom ersten Augenblick an fest. Die Ausbilder waren bereit, und auch die Schul- und Übungsräume standen zur Verfügung. Was uns aber am sympathischsten berührt, das ist der verbindliche und manchmal fast vornehme Umgangston. Stets fühlt man sich als Mensch angesprochen und reagiert dementsprechend, leicht und reibungslos. Hoffentlich bleibt es so. Wir fühlen und hier infolgedessen relativ wohl und tragen nicht mehr ständig den würgenden Widerwillen gegen alles Dienstliche in uns wie in Stralsund, wo eine nervöse Hast und ein barscher Tonfall keinen ungequälten Tagesablauf ermöglichte.
Unser Lehrgang besteht aus ganzen 17 Mann. Das ist nicht viel, aber man muß auch beden-ken, daß unsere Flotte immer kleiner wird und daß von den vielen Landfunkstellen, die noch vor einem Jahr nachrichtenmäßig fast ganz Europa umfaßten, in der Zwischenzeit viele verloren gegangen sind. Infolgedessen ist der Bedarf an Nachrichtenoffizieren z. Z. nicht größer.
Die Ausbildung unseres Lehrganges, der sich FTB-ROA-Lehrgang nennt, liegt in den Händen des 01, Kapitän Skibowski. Er führt gleichzeitig noch den FTB- und den FTC-Lehrgang. Der erstere besteht aus Seeoffizieren und der zweite aus Fähnrichen z. S. Beiden soll zusätzlich zu ihrer navigatorischen Ausbildung noch ein Einblick in den Marinenachrichtendienst vermittelt werden. 
Unser Zugführer ist Leutnant Bredendiek. Ihm zur Seite stehen ein Funk-, ein Signal- und ein Fernschreib-Obermeister. Über Mangel an nachrichten-mäßigen Kapazitäten brauchen wir uns also nicht zu beklagen. Abzuwarten aber bleibt, ob unser geistiges Absorptionsvermögen dieser Fülle von gehortetem Wissensgut gewachsen ist, aber auch darüber wird uns die Zukunft belehren.

11. Januar 1945, Do.                                                      
Auch die räumliche Unterbringung hier in der Nachrichtenschule ist besser als in Stralsund. Wenn wir auch wieder acht Mann hoch in einer Stube hocken müssen, so ist doch wenigstens die Atmosphäre trocken und einigermaßen warm. Selbst zu einem heißen Bade findet sich ab und zu Gelegenheit. Da wir außerdem keine schmutzigen Übungsklamotten zu tragen brauchen, so machen wir z. Z. einen sauberen und ordentlichen Eindruck.
Der böse Geländedienst tritt auch nicht in Erscheinung. Scheinbar verlangt man hier nur Kopfarbeit und keine Bein- und Bauchakrobatik, und da, welch ein Glück, weit und breit auch kein Wald, kein Baum und kein Strauch zu sehen sind, so benötigt man uns auch nicht zum Holz holen. Flensburg ist mithin eine ideale Garnisonsstadt. Es läßt sich gut hier leben. Wir sind denn auch nach wie vor mit unserem Los zufrieden, und das ist fürs erste die Hauptsache.

12. Januar 1945, Fr.                                                         
,,Was das Herz für den Körper ist, das ist die Marine-Nachrichtenschule für den Marinefunk, und wie das Herz das Blut immer wieder ansaugt und danach aufgeladen und gestärkt aufs neue durch die Adern preßt, so zieht auch die Nachrichtenschule in gewissen Zeitabständen ihre Nachrichtenleute wieder an sich, um sie mit neuen Kenntnissen und wertvollen Anre-gungen zu versehen und dann aufs neue wieder in die zahlreichen Arterien des Nachrich-tennetzes zu drücken." So dozierte heute unser 01. Man muß ihm zustimmen und der Nachrichtenschule darüber hinaus das Kompliment machen, daß dies alles nach einem klaren, wohlüberlegten Plan von statten geht. Das Bekannte wird wiederholt, durch Neues ergänzt und vervollkommnet und alles in allem den Anforderungen der Front elastisch angepaßt.
Unser FTB-ROA-Lehrgang (Reserve-Offiziers-Anwärter) umfaßt sieben Lehrgebiete. Oberstes und wichtigstes Unterrichtsfach ist die Nachrichtentaktik, in der der Einsatz und das Zusammenwirken der einzelnen Nachrichtenmittel gelehrt werden. Parallel dazu werden die Spezialgebiete Funken, Fernschreiben und –sprechen und die optischen Nachrichtenmittel besprochen. Schlüsseln und Gerätekunde ergänzen diese Unterrichtsfächer. Die noch verbleibenden Randgebiete werden gegen Ende des Lehrgangs durch Vorträge von Fachreferenten behandelt. Es ist also wieder ein mehr als umfangreiches Stoffgebiet, das man uns hier auftischt, und schon jetzt merkt man, daß man die Ohren wieder verdammt steif halten muß.
Die Geschichte unserer Schule beginnt 1889 mit der Marine-Telegraphenschule Lehe (bis 1918). Früher kannte man nur optische und akustische Nach- richtenverbindungen. Um Flag-gen-, Licht-, Rauch- oder Schallsignale miteinander austauschen zu können, mußten sich aber die Schiffe in Sicht- oder Hörweite befinden. Verschwand eines hinter dem Horizont, blieb das Schicksal von Besatzung und Schiff bis zu ihrer Rückkehr in den Hafen unbekannt. In einzelnen Fällen setzte man Brieftauben ein, doch sie verirrten sich oft.
Aus der Notwendigkeit der Verständigung und den neuen technischen Möglichkeiten der Kommunikation (lat.: Gemeinsamkeit / Mitteilung) versuchte man um 1890, durch die drahtlose Telegrafie mit Hilfe unsichtbarer Hertzscher Wellen, Signale zu übermitteln. Diese wurden dann vom Morseempfänger aufgenommen und aufgezeichnet.
Die große Bedeutung der Radiotelegrafie für die Seefahrt und den Wert für die Kolonien hatte man schnell erkannt. Man begann, Kriegsschiffe der Flotte mit Funktelegrafie auszurüsten.
Der Italiener Marconi benutzte für die zur Erzeugung von Morsezeichen erforderlichen hochfrequenten Schwingungen einen Knallfunkensender. Die Signale konnten von der Gegenstelle nun als krachende Morsezeichen empfangen werden.
Seit Mai 1900 arbeitete auf Borkum die erste zivile Küstenfunkstelle der Marconi-Gesellschaft mit Sitz in Großbritannien. Zwischen den über 10 m hohen Masten hingen die reusenähnlichen Antennen. Die in die Ems einlaufenden Schiffe, die Bordgeräte hatten eine Reichweite ca. 45 km, meldeten sich bei der Küstenfunkstelle an. Über Kabel wurde zur Emdener Hafenbehörde telegrafiert.
Wegen eines Zwischenfalls mit dem mit Telefunken-Funkanlage ausgerüsteten Dampfer ,,Hamburg", - Borkum verweigerte die Übermittlung des Funkspruchs aus Konkurrenzgründen – wurde die Betriebsgenehmigung zurückgezogen und mit dem Bau einer eigenen, also Telefunken-Küstenfunkstelle in Norddeich begonnen. Die zivile Marconi-Küstenfunkstelle auf Borkum wurde von der Marine übernommen.
1900 wurde die Funkentelegraphie-Schule Flensburg ins Leben gerufen. Bis 1918 schulte man an Geräten und Hilfsmitteln für die Nachrichtenübermittlung, wie sie in der Marine zur Anwendung kamen.
Nach dem I. Weltkrieg mußte wegen der Auflagen aus dem Versailler Vertrages die Schule etwas aus der Sichtweite der Entente-Mächte verlegt werden. Die Funkentelegraphieschule Swinemünde bildete von 1918 – 1920 Funker aus. Zwischen 1920 – 1925 wieder Marine-Nachrichtenschule in Flensburg, wurde sie 1925  bis 1934 mit der Torpedoschule als Torpedo- und Nachrichtenschule zusammengelegt. Sie schulte nun auch das Personal für die Torpedolaufbahn. 
Nach dem Aufwachen aus der Lethargie der Weimarer Zeit wurde die Lehranstalt 1934 wieder entflochten  und zur Marine-Nachrichtenschule. 1938 zog die Marine-Nachrichtenschule dann in einen modernen Neubau an der Förde in Mürwik. –

14. Januar 1945, So.                        
Der freie Sonntag führt uns wieder nach Flensburg hinein. Es ist doch ein schönes Städtchen, wenn es jetzt im fünften Kriegswinter natürlich auch nichts Besonders mehr zu bieten vermag, aber schon die schöne landwirtschaftliche Lage und der anheimelnde und biedere kleinstädtische Charakter sind Freuden, denen man sich immer wieder gern hingibt.
Zerstörungen durch Luftangriffe weist Flensburg auch nicht auf. Hoffentlich ergeht es uns hier nicht wie in Stralsund, wo wir eines Tages dann doch plötzlich zwischen Ruinen standen.
Wir unterhalten uns öfters darüber, warum die Angloamerikaner einzelne Städte wie z. B. eben Flensburg oder Dresden bisher noch immer verschont haben. Es werden dabei die verschiedensten Mutmaßungen laut, aber sie gehören wohl alle ins Reich der Fabel. Es ist zu hoffen, daß uns wenigstens noch einige schöne deutsche Städte erhalten bleiben, die von dem erzählen, was Deutschland einst war.
•   Am 13. Januar 1945 haben in Ostpreußen, im Raum von Pillkallen russische Armeen eine Großoffensive begonnen. Ihr Ziel ist wahrscheinlich die Ostsee am Kurisches Haff.

17. Januar 1945, Mi.
Allgemein: Bisher waren die Städte das bevorzugte Bombenziel der Alliierten. Sehr spät besinnen sie sich auf unserer Achillesferse, den Treibstoff, und greifen verstärkt die Raffinerien an.

18. Januar 1945, Do.                        
Im Laufe der letzten Tage sind noch drei Mann zu unserem Lehrgang gestoßen, so daß jetzt unser Häuflein auf ganze 20 Mann angewachsen ist. Man hielt sich deshalb für genötigt, unseren Lehrgang zu teilen und für die Funkausbildung noch einen zweiten Obermeister heranzuziehen.
Mir scheint diese Aufteilung in zwei Gruppen etwas übertrieben, aber sie ist typisch für den Personalaufwand, der beim Militär auch heute noch getrieben wird. Geld spielt kein Rolle und Menschen sind auch keine Mangelware. Gerade hier aber auf der Schule wird man förmlich zu einem Vergleichen mit den anderen Schulgattungen herausgefordert. Wie wird es denn dort gehandhabt?
Soweit ich im Bilde bin kommen bei öffentlichen Schulen z. Z. auf einen Ausbilder  bzw. Lehrer 40, 50, 60 und noch mehr Schüler. Bei ,,Soldatens" aber hat er schon lauter erwachsene Menschen vor sich, verfügt über eine  eiserne Disziplin und ein Höchstmaß von Strafgewalt.  In den Schulen dagegen sitzen kleine Kinder, wilde Jungen, anständige Menschen und ausgewachsene Flegel jeweils in einer Auflage von 40 bis 50 Stück durchschnittlich beieinander. Ihnen soll eine Allgemeinbildung vermittelt werden und ein gründliches Wissen, mit dem sie sich dann ein ganzes Leben lang ihren Unterhalt verdienen sollen. Ist das nicht ein sehr krasser Gegensatz? Fällt das niemandem auf? Was dem einen recht ist, das ist dem anderen billig, und was die einen können, müßten die anderen auch zuwege bringen.
Aber selbst wenn man darüber hinwegsehen wollte, so läßt sich doch wenigstens heutzutage dieser Personalaufwand in keiner Weise mehr rechtfertigen. Bei Dingen aber, die so unverständlich sind, grübelt man und sucht nach einem plausiblen Grund. Wo und wie findet man ihn? Sabotage kommt nicht in Frage. Einfache Dummheit auch nicht; denn dazu ist das Niveau zu hoch. Vielleicht könnte mangelndes Selbstvertrauen der Grund zu diesem starken Personalaufwand sein? Das aber wäre wieder eine ganz ungewöhnliche soldatische Tugend, mit der man auch nicht rechnen kann. Immerhin, mit den Leistungen muß es irgendwie zusammenhängen. Vielleicht kommt man der Sache am nächsten, wenn man einfach eine traditionelle Gepflogenheit annimmt, die eine Sache stets unbeirrt weiterhin so handhabt, wie es nun einmal althergebracht und Sitte ist: Für 10 Mann 1 Unteroffizier, für 20 Mann 2 Unteroffiziere, 1 Leutnant und 1/3 Hauptmann usw. Das ist die Taxe und davon geht man nicht ab.
Es klingelt. Nun habe ich die ganze Unterrichtsstunde über das Problem nachgedacht und gar nicht aufgepaßt, worüber unser guter Zugführer mit lyzeumhafter Süßlichkeit zu plädieren die Freundlichkeit hatte.

20. Januar 1945, Sa.                        
Sonnabendnachmittag. – Geländedienst. – Das hört sich gruseliger an, als es in Wirklichkeit ist und hat mit Entfaltung, Hinlegen und Bodenakrobatik nichts zu tun. Hauptaufgabe ist lediglich die Einweisung in das Stellungssystem, das man rings um Flensburg angelegt hat und in dem wir im Falle eines Falles, der ja jetzt nicht mehr von der Hand zu weisen ist, einen Abschnitt besetzen sollen. Das schwierigste ist dabei, daß man von den Gräben und Panzerlöchern nicht mehr viel gewahr wird, weil alles verschneit und verweht ist. Gewöhnlich entdeckt man ein Schützenloch oder ein MG-Nest erst dann, wenn man querfeldein tappend, plötzlich bis an die Brust wegsackt und bis an die Knie im Grundwasser steht. Jetzt darf der Feind also nicht kommen. Das gäbe ein beispielloses Fiasko, ein Rückzugsgefecht, das wir uns gern ersparen möchten. Hoffen und vertrauen wir weiterhin auf unseren guten Stern. Es wird schon schief gehen!

21. Januar 1945, So.                        
Die Flensburger Sonntage haben es in sich. Schneetreiben vom Morgen bis zum Abend. Soll man bei diesem Wetter wieder bis nach Flensburg laufen? Es ist nicht ganz ohne; denn man muß die ganze Strecke zu Fuß gehen, da sonntags keine Straßenbahnen fahren. Oder soll man vielleicht nach bewährtem Stralsunder Muster lieber in der Stube hocken bleiben? Nein, das geht auch nicht. In Stralsund konnte man sich das leisten; denn da war man in der Woche oft genug unterwegs, aber hier auf der Nachrichtenschule, wo man fast ausschließlich die Schulbank drückt, möchte man wenigstens sonntags etwas Auslauf haben.       
Ich schlendere deshalb nach Tisch einmal zum Hafen hinunter. Er ist wie ausgestorben und die wenigen Schiffe, die noch im Hafen sind, verraten auch kein Leben. Sie liegen schon lange im tiefen Winterschlaf. Die ,,Caribia" und die ,,Patria", unsere schönen 12 000-Tonner hängen gleich großen schwarzen Schatten leblos an der Pier. Sie haben die Seefahrt aufge-geben und fungieren nur noch als Wohnschiff. Das ist auch ein Beruf, allerdings nicht der einträglichste, aber mit wem geht es heute nicht bergab.
Neben diesen Riesen räkeln sich noch ein paar kleinere Fahrzeuge an der verschneiten Pier, ein Torpedoboot, einige M-Boote und mehrere kleine Schuten, die ebenfalls hier auf bessere Zeiten warten.
Weit draußen im U-Boothafen liegen, in Päckchen zusammengedrängt, einige U-Boote. Auch bei ihnen herrscht jetzt zum Sonntagnachmittag keinerlei Betrieb. Sie genießen ihre paar Hafen- oder Werfttage in Ruhe; denn wie bald müssen sie wieder hinaus und das ist jetzt im Winter auch nicht das größte Vergnügen.
Zeitig bricht bei diesem trüben Wetter der Abend herein. Ich kehre in die Kaserne zurück. Das Abendbrot wartet, und ein ausführlicher Brief an die Lieben daheim soll auch noch wer-den. Sie warten ja genau so sehnsüchtig auf Post wie ich. Seitdem ich hier in Mürwik bin, ist noch kein Brief von daheim eingegangen. Die Briefe brauchen jetzt immer sehr lange. Dadurch ziehen sich die gegenseitigen Fragen und Antworten sehr in die Länge und der brief- liche Gedankenaustausch, der bislang wenigstens noch ein fernes Nebeneinanderhergehen gestattete, wird immer illusorischer. Wir geben nach und nach alles auf, die Liebe, die Heimat, unsere Städte und Wohnungen und jetzt auch noch das letzte liebe Wort, das von irgendwoher aus der fernen Heimat zu und drängt. Bettelarm sind wir geworden, arm an Leib und Seele!

Albatros

Januar 1945, es scheint alles seinen gewohnten Gang zu gehen........vier Monate noch bis zur Kapitulation.

:MG:

Manfred

Seekrieg

2. Die russische Dampfwalze
23. Januar 1945, Di.                        
Fürwahr, hier hinter den Kasernenmauern, unangefochten von den Wirrnissen der Welt, ließe sich in klösterlicher Zurückgezogenheit ein schönes und geruhsames Leben führen. Allein, Rundfunk und Zeitungen ermöglichen keine Flucht aus der Welt. Sie versperren alle Wege aus der Zeit. So bleibt denn auch niemandem die bedrohliche Lage an den Fronten verborgen. Unsere Dezemberoffensive aus den Ardennen heraus, die sich erfolgversprechend anließ, ist schon in der ersten Januarwoche zum Stehen gekommen.
In diesen Wochen stärkster militärischer Beanspruchung blieb aber auch der Russe nicht untätig. Am 13. Januar trat er gleichfalls mit überlegenen Kräften zu einer Winteroffensive in Ostpreußen an, überrannte die deutschen Verteidigungslinien und brachte unsere Truppen zum Weichen. Neue Eingreifreser- ven rollen an die bedrohten Frontabschnitte. Volkssturmeinheiten werden in Hast gegen den Feind geworfen. Mit allen Mitteln soll der Gegner zum Stehen gebracht werden.
Man fragt, ob all das noch etwas nützt oder ob es nur retardierendes Moment in dem großen Drama ist, das sich jetzt mit Riesenschritten seinem tragi- schen Ende zuwendet. Ich weiß es nicht und will auch kein Prophet sein; denn dazu bedarf es heute keiner Sehergabe mehr.
• ,,Die Rote Armee ist angetreten, um der deutschen Bestie den Todesstoß in ihrer Höhle zu versetzen. Mit glühendem Haß im Herzen betreten wir das Land des Feindes. Wir kommen als Richter und Rächer." Aufruf Stalins an die sowjetischen Truppen zum Sturm auf Deutschland 1944.
Für das, was der deutschen Bevölkerung Deutschland und besonders den Frauen bevorstand, steht der Name Ilja Ehrenburg.
• Fischäugige Idioten
,,Man kann alles ertragen: Not, Hunger, Tod. Aber die Deutschen kann man nicht ertragen. Man kann diese fischäugigen Idioten nicht ertragen, die alles Russische verachten. Wir können nicht leben, solange diese graugrünen Schnecken am Leben sind. Heute gibt es keine Bücher, heute gibt es keine Sterne am Himmel. Heute gibt es nur einen Gedanken: Die Deutschen töten, sie töten und in die Erde verscharren. Dann erst können wir wieder an das Leben, an Bücher, an Mädchen, an Glück denken. Wir dürfen uns nicht auf Flüsse und Berge verlassen. Wir können uns nur auf uns selbst verlassen. Die Thermopylen konnten sie nicht aufhalten und auch das Meer und Kreta nicht. Männer hielten sie auf, nicht in den Bergen, sondern in den Schrebergärten am Rande Moskaus. Wir werden sie alle töten. Aber wir müssen es schnell tun, sonst werden sie ganz Rußland entweihen und noch Millionen zu Tode quälen." Ilja Ehrenburg, sowjetischer Schriftsteller, in der Zeitschrift ,,Roter Stern", 13. August 1942

Vom persönlichen Leid geformt und ideologisch ausgerichtet, so stürmten die meisten Soldaten der Roten Armee vorwärts. Über eine Million ostpreußi- scher Einwohner fliehen bei grimmiger Kälte und hohem Schnee vor ihnen. Aber für viele Frauen, Kinder und alte Menschen ist es schon zu spät. Oft bleibt nur der gefährliche Weg über das zugefrorene Frische Haff auf die Nehrung. Andere werden, wenn die Front sie überrollt hat, zu Gefangenen.
• Zufällig ein passender Beitrag im ZDFinfo, ,,Die Gefangenen", gesendet im Abendprogramm am 13.01.12. Danach waren zu Kriegsende 300.000 - 500.000 Zivilgefangene, Frauen, Kinder und alte Menschen in sowjetischen Lagern (Alexander Solschenizyn nennt sie später Gulags).
Gezielte Angriffe auf die Flüchtlingstrecks und die unvorstellbaren Bedingungen fordern große Opfer. Viele Flüchtlinge sehen ihre Chance, in Pillau auf ein Schiff zu kommen. Die Kriegsmarine beginnt mit den Räumungstransporten aus Ostpreußen und den Häfen der Danziger Bucht.

24. Januar 1945, Mi.                        
Die Tage vor dem Ersten sind immer die schwersten. Das galt in Friedenszeiten und gilt auch jetzt im Kriege. Damals bezog man dieses Wortspiel auf das nötige Kleingeld, heute aber meint man damit den Mangel an Rauchwaren.
Von Monat zu Monat ist die Zuteilung immer knapper und illusorischer geworden. Sie reicht auch bei sparsamstem Verbrauch kaum die ersten 8 oder 14 Tage. Gegen Ende des Monats aber sind auch die letzten Tabakkrümel längst zu einer lockeren Zigarette verdreht, und auch die allerletzte Kippe ist im Pfeifchen als blasses Rauchwölkchen unwiederbringlich dahingegangen. Nun kaut man mit saurer Miene an seiner kalten Pfeife.
Man sollte also seinerseits das Niveau der täglichen Bedürfnisse möglichst niedrig wählen, um das Abhängigkeitsverhältnis zur Umwelt in erträglichen Grenzen zu halten. Im Schnittpunkt der individuellen Einzelbedürfnisse und dem Grad ihrer Befriedigung durch die Gesellschaft liegt dann der Prozentsatz der jeweiligen Glückseligkeit. Sie ist mithin in erster Linie eine Willensfunktion. Es ist ratsam, sich manchmal daran zu erinnern.

30. Januar 1945, Di.
Letzte Rundfunkansprache des Führers.
• Der Rundfunk meldet, dass am 21. Januar Vorhuten der Roten Armee in die Stadt Elbing (U-Boot-Bau) eindrangen. Sie wurden zurückgeschlagen, stießen aber am 26.01. bei Tolkemit zum Frischen Haff durch. Damit war Ostpreußen von seinen Landverbindungen abgeschnitten.
Die Panzer-Grenadier-Div. ,,Großdeutschland" kämpfte unmittelbar am Haff einen schmalen Verbindungsweg nach Königsberg frei.
Kräfte der Rote Armee erreichen die Oder zwischen Frankfurt/Oder und Küstrin. Es gelingt ihnen, am westlichen Ufer bei Küstrin Brückenköpfe zu bilden.

02. Februar 1945, Fr.                        
Heute Mittag gegen 13 Uhr trafen, von Swinemünde kommend, drei Dampfer mit Flüchtlingen im Hafen ein. Es sind die ersten. Wie viele werden noch kommen mit solch trauriger Last? Im Osten sollen die Straßen und die Eisenbahnzüge mit Flüchtlingen überfüllt sein. Bei dem eisigen Winterwetter wäre kaum ein Vorwärtskommen, und hinter allem stände der immer wieder angreifende Russe. Es ist furchtbar.

03. Februar 1945, Sa.                     
Wir helfen die Flüchtlinge vom Dampfer ,,Antonio Delfino" (12 000 BRT) vom Hafen zur Straßenbahn und nach Flensburg bringen, wo sie vorläufig in Schulen und Privatquartieren untergebracht werden sollen.
,,Antonio Delfino" hat 2 400 Flüchtlinge an Bord und ist seit Montag vergangener Woche unterwegs. Das Elend ist grauenhaft, und ich wundere mich nur immer wieder, mit welchem Mut und mit welcher Standhaftigkeit all diese Qual ertragen wird. Man hört keine Klagen. Alles wird hingenommen, als müßte es so sein und wäre nur selbstverständlich. Man kennt sich gar nicht mehr aus.
Während der zwölftägigen Fahrt wurden auf der ,,Antonio Delfino" fünf Kinder geboren. Eins davon ist gestorben. Das Leben geht also weiter, und wenn es auch nur noch wie bittere Ironie anmutet!
• Wieder ein Großangriff auf Berlin.

04. Februar 1945, So.                     
Man erzählt, daß das K.d.F.-Schiff Wilhelm Gustloff mit mindestens 8 000* Flüchtlingen an Bord, meist Frauen und Kindern, auf der Fahrt von Ost nach West torpediert worden und gesunken sei. – * Spätere Nachprüfungen kommen auf min. 10 582 Personen, davon starben 9 343.

05. Februar 1945, Mo.                     
Nun sitze ich schon eine halbe Stunde vor einem Bogen weißen Briefpapiers und kaue am Federhalter wie ein Schuljunge, der einen Aufsatz schreiben soll und dem trotz allen Nachdenkens kein vernünftiger und gängiger Gedanke einfallen will.
Es wird aber auch immer schwieriger, einen lieben Brief an Daheim fertig zu machen; denn schon im zweiten Satz wollen sich die Sorgen und die ganze Trostlosigkeit der Zeit mit einschleichen, und gerade daran will man ja nicht auch noch in den Briefen von seinen Lieben erinnert sein. Da wenigstens möchte man einmal etwas anderes lesen als immer nur Kriegsgeschrei, Lügen, Not und Elend.
Gertrud, niemals verlegen in der Aufstellung solcher Wünsche, nennt das ,,Urlaub nehmen von der Zeit." Es gelingt aber auch ihr nicht, denn gerade in ihrem letzten Brief hadert auch sie mit dem Schicksal und addiert und subtrahiert grübelnd das Für und Wider von Vergangenheit und Gegenwart.

06. Februar 1945, Di.                        
Der Signalobermeister spricht mit uns die optischen Nachrichtenmittel durch. Das ist nicht uninteressant. Noch fesselnder aber erscheint mir im Augenblick der Kommandeur, der flankiert von seinem kleinen, braunen Dackel, seine morgendliche Inspektionsrunde absolviert. Interessiert verfolge ich durchs Fenster jede seiner Bewegungen. Wie er prüfend seine Augen umherschweifen läßt. Sogar die lange Fensterfront am Schulgebäude tastet er mit raschen Blicken ab. Das ist sein gutes Recht oder sogar seine Pflicht; denn das Auge des Herrn macht die Kühe fett.
Der Obermeister ruft mich auf: ,,Zählen Sie mir doch noch einmal die optischen Signalmittel auf." – ,,Zu den optischen Signalmitteln gehören die Morse-lampe, der Handscheinwerfer, der große Scheinwerfer, die Topp- und Hecklaterne, der NSA und der FSA, - das Seehundgerät, und – Wink-, Morse- und Signalflaggen." - Alle habe ich nicht  zusammenbekommen.
Unterdessen ist der Kommandeur und Leiter der Schule, Kapt.z.S. Ritter, mit 6 Dez über die Straße gekurvt. Sein Dackel folgt ihm im Kielwasser. Auf der anderen Straßenseite schert er aus und stützt mit seiner rechten Hinterpfote geschickt und vorsorglich die Ecke des gegenüberliegenden Kasernen- blockes ab, damit der hohe Gebäudekomplex ihm nicht etwa gerade beim Austreten über dem Kopf zusammenfällt. Dann wetzt er mit zweimal volle seinem Herrchen hinterher.
Und wieder stört mich der Obermeister in meinen naturkundlichen Betrachtungen. ,,He, Sie! Sie müssen besser aufpassen! Ja, Sie! Der Kerl sieht schon wieder zum Fenster hinaus!" – ,,Jawohl, Herr Obermeister." – Wirklich, ich muß etwas besser aufpassen und mich besonders auf distributive (verteilende) Aufmerksamkeit schulen, aber das wird mir auch noch gelingen!

07. Februar 1945, Mi.                        
Wir fragen uns immer wieder: Warum sind wir eigentlich noch hier auf der Schule und lernen, wo doch jetzt ganz andere Dinge in den Vordergrund stehen. Auch andere Kameraden bewegt diese Frage, aber man erhält immer nur die eine Antwort: ,,Sie sind nicht nur hier um zu lernen, sondern sie stellen gleichzeitig die Besatzungsmacht dar, die im Falle eines möglichen Angriffes hier bereitstehen muß. Außerdem fehlt es nicht an Truppen, sondern an Treibstoff und Waffen. Halten Sie also die Position, die ihnen zugewiesen ist"! Basta!

08. Februar 1945, Do.                     
Das K.d.F.-Schiff ,,Robert Ley" und zwei weitere Schiffe stehen mit 5 000 Flüchtlingen an Bord vor dem Hafen und können nicht einlaufen. Die Einfahrt ist vermint. Gestern Abend von 22 bis 23 Uhr kurvten Flieger im Flensburger Raum und warfen uns die Zufahrtswege zu. Der Tommy arbeitet den Russen sehr präzis in die Hände. Besser kann die Zusammenarbeit wirklich nicht sein. Die Leidtragenden sind natürlich wir.

09. Februar 1945, Fr.                        
Post von daheim. Ein Beschwerdebrief. Gertrud beklagt sich, daß ich zu wenig schreibe bzw. nicht ausführlich genug. Was soll man aber auch schreiben? Es ist ja ein Tag wie der andere, und jede Woche wird trostloser. Man ist äußerlich und innerlich aufgezehrt und fürchtet sich vor dem Denken und Schreiben. Hinzu kommen die ständigen Sorgen um die Lieben daheim. Die Front rückt immer weiter landeinwärts, und die feindlichen Bomber pflügen rücksichtslos eine Stadt nach der anderen um. Man ist so müde, innerlich so ausgezehrt, daß man sich zu nichts mehr aufraffen kann und am liebsten treiben lassen möchte. Fast geht alles an einem vorüber, als würde es einen gar nichts mehr angehen. Auch jeder andere ist am Ende seiner Kräfte.
Dann sorgt man sich, ob sie zu Hause noch genügend zu essen haben und ob noch ein paar Kohlen im Keller sind. Günter wieder fragt an, ob ich ihm Schreibhefte. Es ließen sich nirgends welche auftreiben. Mutti wieder beklagt sich über Günters mangelnden Fleiß in der Schule. Wie gerne würde ich ihr wenigstens diese Sorgen und Kümmernisse abnehmen. Jürgen ist zur Abwechslung wieder einmal krank und es gibt nichts Kräftiges, was man ihm zur Stärkung reichen könnte. Eben heulen die Sirenen wieder Fliegeralarm und Jürgen liegt im Fieber. Es ist zum Verzweifeln!

10. Februar 1945, Sa.
• Die Front der 2. deutschen Armee in Hinterpommern hält noch. (neuntägige Schlacht)

11. Februar 1945, So.                        
Heute, am Sonntagnachmittag, war ich mit einigen Kameraden spazieren, um etwas Frühjahrsluft zu absorbieren. Ich unterhielt mich besonders mit einem Berufsfunker von Borkum, der lange Zeit auf dem Feuerschiff Borkum gefahren ist und zuletzt als Wetterflieger eingesetzt war.
Besonders fesselten mich seine Berichte über das Leben an Bord des Feuerschiffes Borkum, es hat 6 m Tiefgang und einen 15 m hohen Turm, von dem, kardanisch aufgehängt, das Feuer ausgestrahlt wird. Er erzählte mir von den Zeiten, in denen die Zugvögel scharenweise das Schiff umkreisten und, vom Feuer geblendet, herabstürzten und an Deck fielen. Viele Vögel wurden zu Studienzwecken beringt. Viele aber waren auch tot, so daß man sie nur noch über Bord schaufeln konnte.
So verging der Nachmittag schnell und unterhaltend, und es war schön, einmal etwas anderes zu hören als immer nur vom Krieg. Sonntags muß man einmal ausspannen können und den Gedanken eine andere Richtung geben, sonst hält man das Leben nicht mehr aus.

12. Februar 1945, Mo.                     
Es ist schwer, den ganzen Tag auf der Schulbank zu sitzen und dabei auch noch die Augen offenzuhalten. Zwar habe ich mir gleich am ersten Tag einen Platz im hinteren Drittel der Bankreihen gesichert, wo man in einer langweiligen Stunde einmal einen Brief schreiben, ein Buch lesen oder ein kurzes Nickerchen riskieren kann, aber das sind und bleiben Notbehelfe, auf die man nur zurückgreift, wenn das Fleisch einmal stärker ist als der Geist.
Bei mir tritt dieser Fall gewöhnlich dann ein, wenn unser lieber Zugführer doziert und unsicher und behutsam sich und uns einen Pfad durch das Gestrüpp der tausend verschiedenen Nachrichtenbestimmungen bahnen will. Es ist eine didaktische und unterrichtliche Katastrophe, bei der man lieber gleich wegsieht.
Dabei sind die Nachrichtenvorschriften, soviel es auch immer sein mögen, durchaus nichts Kaltes oder Totes, sondern etwas durchaus Lebendiges, Notwendiges und Gewachsenes, das nur so und nicht anders sein kann. Es gehört natürlich ein Lehrer dazu, der über dem Stoff steht, der ihn lebendig an den Mann bringen kann und versteht, daraus als unentbehrliches Rüstzeug für jeden Nachrichtensoldaten ein Einmaleins zu machen. Aber genug davon, ich wollte doch in dieser Stunde etwas ruhen. Mein Nebenmann ist auch schon dabei. Schlafen scheint eine ansteckende Krankheit zu sein oder mehr noch ein internationales Übel; denn die Kameraden, die vor mir hier saßen, haben auch schon geschlafen und um es aller Welt kundzutun, folgende Zeilen ins Holz der Schulbank geritzt:
,,Über allen Bänken ist Ruh./ Vom Pult her hörest du kaum einen Hauch.
Mein Nachbar schläft feste./ Ich glaube, es ist das beste, ich schlafe auch."
Sein Nebenmann muß wenig poetisch angehaucht gewesen sein; denn sein Vierzeiler liest sich viel realer und irdischer. Er lautet:
,,Ach wär´ ich doch bei Lilo / und nicht bei diesem Herrn!
Hier muß ich schlafen / und dort tät ich´s so gern!" -
Ich auch, aber das sind Schlösser, die z. Z. im Monde liegen.

• 04.-12.02. Jalta-Konferenz der Alliierten: Stalin, Roosevelt und Churchill beschließen die Aufteilung Deutschlands in 4 Besatzungszonen. Außerdem einigen sich in einem Geheimabkommen über die polnisch-sowjetische Grenze. Roosevelt und Churchill akzeptieren Stalins Forderung nach deutschem Humanmaterial für die Wiedergutmachung (siehe ZDF info: ,,Die Gefangenen").

13. Februar 1945, Di.                        
Heute waren wir zum ersten Male auf den an Land nachgebauten Signalständen und übten das Flaggensignalisieren praktisch. Der optische Signal-verkehr; sei es durch Signalflaggen oder sei es durch Signalwinken ist von großer Bedeutung. Beim ,,Winken" steht der Signalgast mit zwei Signalflaggen auf erhöhter Position, damit man ihn auf dem angerufenen Schiff gut sehen kann. Die Übermittlung von Befehlen oder Mitteilungen geschieht in der Regel offen, d.h. unverschlüsselt. (Das Winken wurde auch noch bei der Volksmarine gelehrt).
Neben dem Schiffssignalstand, auf dem die ,,Signalgasten" herumfuchteln, ist ein Signalflaggen-Stell, in dem die einzelnen Flaggen in alphabetischer Reihenfolge bereitgehalten und auf Kommando ,,vorgeheißt" werden, so daß sie an ihren Leinen untereinander auswehen. Die Übermittlungstexte sind dabei nach einem ,,Signalhandbuch" codiert.
Es wehte ein kalter, bissiger Wind. Infolgedessen hatten wir mit den langen Flaggen und Standern unsere liebe Not, aber es war einmal etwas Neues und Unterhaltsames, und so waren wir auch damit ganz zufrieden. Man muß alles einmal getan haben, wenn man später große Bogen spucken will.

RonnyM

Was mir auffällt, dass er sich Gedanken um die Verpflegung daheim macht. In der Schule selbst muß die wohl nicht so schlecht gewesen sein, denn darüber gibt es "kein Mecker" :lol:
Vielleicht hat auch die bäuerliche Umgebung ihre Ursache. Also genug Mampf für Kampf  :MZ:



Grüße Ronny
...keen Tähn im Muul,
over La Paloma fleuten...

Seekrieg


3.    D r e s d e n  +

14. Februar 1945, Mi.                        
,,Anglo-amerikanische Flugzeuge richteten in der vergangenen Nacht einen schweren Terrorangriff auf das Stadtgebiet von Dresden...." meldet der heutige OKW-Bericht.
Einmal mußte es ja kommen! Es hat lange genug auf sich warten lassen. –
Gegen 21.45 Uhr Alarm. 22.03 Uhr: Der Masterbomber "beleuchtet". 22.13 Uhr öffnet sich die Hölle. Luftminen und Sprengbomben öffnen den Brand-bomben den Weg ins Gebälk. Nach ca. 15 Minuten brennen 3/4 der Altstadt. Die zweite Welle, RAF und Kanadier, tobte sich am 14.2. ab 01.23 -01.54 Uhr aus. Keine Abwehr! Die nachdem ersten Angriff ausgerückten Rettungs-und Löschkräfte kommen, das ist beabsichtigt, im zweiten um. Es entwickelt sich ein "Feuersturm" mit Temperaturen wie im Schmiedefeuer. 15 km² Stadtgebiet sind betroffen. Am Mittag des 14.2. von 12.17-12.31 Uhr neuer Angriff. 300 B 17 der 8. USAAF werfen ihre Bomben in die Rauch- und Fammensäule.
Die Zahl der Opfer wird nie genau zu ermitteln sein, denn zusätzlich hielten sich ca. 250 000 Flüchtlinge aus Schlesien in der Stadt auf.

15. Februar 1945, Do.
14./15.2.  Nachtangriff auf Chemnitz.
Luftangriffe auf Cottbus und Magdeburg. Wieder Tagangriff auf das brennende Dresden.

16. Februar 1945, Fr.                        
Ich habe nicht die geringste Spannkraft mehr, keine Aufmerksamkeit und keinerlei Lust, auch nur ein Atom zu lernen. Kein Wunder! Die Gedanken sind ja immer zu Hause, und wenn ich auch nicht das Gefühl habe, daß den Meinen etwas Ernstliches zugestoßen ist, so lebt doch ständig eine fressende Unruhe in mir, die mich nicht zur Ruhe kommen läßt.
Und wie lange wird es nun dauern, bis endlich wieder Post eintrifft und die ewige Pein ein Ende findet. Ist nicht allein schon der Gedanke furchtbar genug, daß sie daheim schutz- und hilflos in Angst und Not diesen Schrecken über sich ergehen lassen mußten?
• Nach und nach erklären viele unbedeutende Länder der Welt Deutschland den Krieg!

19. Februar 1945, Mo.                     
Trotz all des Grauens steht die Erde nicht still, und auch unser Unterricht wird unbekümmert weiterhin vorangetrieben, als lebten wir auf einer Insel glückseliger Weltabgeschiedenheit. Zu allem Überfluß und Überdruß  fängt man jetzt auch noch mit Zensuren an und arbeitet, entsprechend der hier üblichen Präzision und Tradition sogar mit Zehntelwerten. Das gibt eine Werterei und Auspunkterei, wie sie orthodoxer und pedantischer nicht sein kann.
Mir soll es gleich sein. Ich weiß, was ich weiß und auch, was ich wert bin, und im Übrigen sollen sie mit mir machen, was sie wollen! Mir liegt es jedenfalls nicht, bei jeder Frage das Fingerchen zu heben, oder sich, wie unser Kraxelhuber, bei jeder Gelegenheit vorzudrängeln und zu melden: ,,Herr Sowieso, ich weiß etwas." –
Im übrigen bin ich der Meinung, daß der Wert eines Menschen nicht von diesem oder jenem zufälligen Wissen, das er sich außerdem jederzeit rechtzeitig aneignen kann, abhängt, sondern vom Gesamtumsatz seiner geistigen, charakterlichen und körperlichen Fähigkeiten, und dabei bleibe ich!
• Durch den Angriff verschiedener Inf.-Verbände, sowie gezielter Stoß aus der Festung Königsberg kann, unterstützt durch das Feuer schwerer Schiffsgeschütze, eine Verbindung zwischen Königsberg und Pillau freigekämpft werden. Trotz starken Drucks der Roten Armee wird der ,,Fluchtkorridor" bis zum 6.4. gehalten.
Ein Dorf wird zurückerobert. Man entdeckt die sowjetischer Gräueltaten in Metgethen.
Der russische Schriftsteller rief als Kriegsberichterstatter in Flugblättern die russischen Soldaten permanent zu fanatischem Deutschenhaß u.s.w. auf: U. a.
- ,,Die Deutschen werden die Stunde verfluchen, da sie unseren Boden betraten. Die deutschen Frauen werden die Stunde verfluchen, in der sie ihre Söhne geboren haben. Wir werden nicht (nur) schänden. Wir werden nicht (nur) verfluchen. - Wir werden totschlagen." 
- ,,Für uns gibt es nichts Lustigeres als deutsche Leichen."
- ,,Tötet, tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, an den Lebenden nicht und nicht an den Ungeborenen! Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft für immer das faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen. Nehmt sie als rechtmäßige Beute. Tötet, ihr tapferen, vorwärtsstürmenden Rotarmisten!"
Der US-Historiker de Zayas sagte: ,,Ehrenburg heizte mit seiner Haßpropaganda alle Begierden der russischen Soldaten an!" Mehr bei Google.
In Rostock gab? gibt es eine Ilja Ehrenburg Straße!

20. Februar 1945, Di.                        
Ab und zu liest man uns jetzt auch einmal die Geheimberichte zur Frontlage vor. Darin hieß es neulich: ,,Die Lage ist ernst, aber nicht so ernst, daß das Genie des Führers nicht auch jetzt noch einen Ausweg fände." –
Das klingt wie ein delphisches Orakel, aber dazu kann man nur sagen: Wenn man schon früher keinen Ausweg wußte, dann ist es jetzt erst recht schwer oder besser gesagt unmöglich. Und darüber sollte man sich auch nicht mit Phrasen hinwegsetzen. Einmal muß man ja schließlich die Konsequenz ziehen. Dafür aber scheinen nach wie vor alle Voraussetzungen zu fehlen.

21. Februar 1945, Mi.
• Die sowjetischen Armeen überschreiten die schlesische Grenze und erreichen die Oder bei Breslau.

22. Februar 1945, Do.                     
Heute kam endlich Post von zu Hause, die bekannte Eilkarte mit dem grünen Rand. Gertrud schreibt: ,,Lieber Vati! Noch ist bei uns nichts passiert. Wir sind alle noch gesund, stehen aber dauernd angezogen bereit und kommen auch jetzt gerade wieder aus dem Luftschutzkeller. Sonst sehr schlimm. Haben heute früh von Dir Post bekommen. Bleib gesund. Deine Trudel und Buben."
Nun ist mir wohler. Der große, schwere Stein, der so lange auf dem Herzen lag, hat es nicht erdrückt. Er ist wieder heruntergerollt. Aufatmen kann man aber trotzdem nicht; ,, .... denn vielleicht, in dem wir hoffen, hat uns neues Unheil schon betroffen"! –
Ein Trost aber besteht jedenfalls! So kann es nicht mehr lange weitergehen. –
• Die alliierten Bomber nehmen sich in Großeinsätzen die Verkehrsknotenpunkte in Westdeutschland zum Ziel.

4. Ausklang                     

23. Februar 1945, Fr.                        
Nun habe ich fast zwei Stunden lang, der Unterricht war gar zu eintönig, Tagebuch gepönt und dann über das Problem nachgegrübelt, warum man an den militärischen Schulen nicht, wie an allen anderen Schulen auch, den Unterricht in die Hände von richtig ausgebildeten Lehrern legt.
Es läßt sich doch nun einmal nicht bestreiten, daß Unterrichten eine Kunst und Fertigkeit ist, die gelernt und geübt sein will und daß der Fachmann mit ganz anderem Geschick und Elan an die Dinge herangeht, zu allem nur Hälfte der Zeit benötigt und schließlich noch das Doppelte erreicht. Was man hier als Unterricht bezeichnet ist doch bestenfalls nur ein gut eintrainiertes Frage- und Antwortspiel und hat mit Unterrichten selbst nicht mehr zu tun.
Erkennt man denn diesen Unterschied nicht? Reist man hier in eigener Überheblichkeit oder imitiert man traditionsgemäß den Alten Fritz, der auch Soldaten als Lehrer einsetzte, allerdings mit dem Unterschied, daß er ausgediente oder invalide Krieger zu diesem Zwecke verwendete und dabei in erster Linie an sein zusammengeschrumpftes Staatssäckel dachte.
Immerhin sind wir in den folgenden zwei Jahrhunderten manchen Schritt vorwärts gegangen und dem sollte man sich auf unseren militärischen Schulen auf die Dauer nicht verschließen. Man würde dann nämlich die freudige Überraschung erleben, daß plötzlich viel weniger zum Fenster hinaus gesehen würde, daß im Unterricht keine Briefe mehr verfaßt würden, daß die Privatlektüre verschwindet und daß das Wissen größer und persönliches Eigentum würde. Vielleicht kommt man eines Tages doch noch dahinter.
• Amerikanische Kräfte eröffnen aus den Rur-Brückenköpfen einen Großangriff in Richtung Ost und Nordost.

24. Februar 1945, Sa.                     
Heute sind wieder drei Stunden schriftliche Wiederholung angesetzt. Das ist dann das dritte Mal in dieser Woche, dass man uns nach allen Seiten hin ausquetscht, aber wir werden schon sehen, wie wir mit dem Rücken an die Wand kommen. In solchen abnormen Situationen hilft sich das gequälte Individuum dann schon selbst. Am meisten Tamtam macht unser Zugführer, der schon die ganze Woche mit frommen Augenaufschlag herumrennt und posaunt: ,,Meine Herrn, meine Herrn! Die grande Repetition!"
Ich sage immer: Bangemachen gilt nicht. Wenn aber manche Schulen, oder präziser gesprochen, gewisse Ausbilder Interesse daran haben, im Lehr- gangsteilnehmer, um mit Schleiermacher zu reden, das Gefühl der Abhängigkeit schlechthin zu wecken, so spricht das für sich und ist lediglich der Ausdruck ihres großen Minderwertigkeitskomplexes.
• Mit verstärkten Kräften beginnen die Sowjets in Hinterpommern einen neuen  Angriff.
In einer Proklamation zum Parteigründungstag aus dem Hauptquartier erklärt der Führer, daß im Krieg ,,noch in diesem Jahr die geschichtliche Wende eintritt". Er zieht eine Parallele zu Friedrich des Großen im Siebenjährigen Krieg. Gegen die Übermacht der (halben) Welt muß jeder ,,...mit äußerstem Fanatismus und verbissener Standhaftigkeit auch die letzte Kraft einzusetzen, die ein gnädiger Gott den Menschen zur Verteidigung seines Lebens finden läßt. Was dabei schwach wird, fällt -, muß und wird vergehen .... Es soll aber kein Zweifel darüber herrschen, daß das nationalsozialistische Deutschland diesen Kampf solange weiterführen wird, bis am Ende auch hier, und zwar noch in diesem Jahre, die geschichtliche Wende eintritt..."
,,.... Meine Parteigenossen, vor 25 Jahren verkündete ich den Sieg der Bewegung. Heute prophezeie ich, wie immer durchdrungen vom Glauben an unser Volk, am Ende den Sieg des Deutschen Reiches!" -

25. Februar 1945   
Ein sonniger Tag, ja stimmt: Sonntag. Es wird nicht mehr geheizt. Unsere Kohlen sind restlos alle. Heute Morgen haben die letzten Kohlenbrocken ihren Weg durch den Schornstein angetreten. Nun sind auch sie verschwunden. Jetzt stehen wir vor dem Nichts, vor leeren Bunkern. Bisher war es uns immer noch gelungen von irgendwoher, notfalls auch von den im Hafen liegenden Schiffen, einige Tonnen Kohle zu organisieren, aber auch damit ist es jetzt vorbei. Es gibt nichts mehr. Es geht alles einmal zu Ende.
Draußen auf der Hauptstraße ist man schon dabei Straßenbäume zu fällen, um Feuerung für die Bevölkerung zu erhalten. Später werden die Türen und Möbel an die Reihe kommen, aber wie es danach weitergehen soll, das weiß ich auch nicht.

26. Februar 1945, Mo.   
Es ist nur gut, daß dieser Monat nur 28 Tage zählt. Da ist die Spanne bis zum ersten, an dem es die neuen Raucherkarten gibt, nicht mehr gar so weit. Seit Mitte des Monats sitzen wir je bereits wieder auf dem Trockenen, so sehr auch jeder einzelne spart und bemüht ist, die Tabakkrümel lang zu strecken.
Da Reemtsma uns nicht helfen kann, sammele ich schon lange meine EKs (eigene Kippen) und rauche sie dann in der Pfeife auf. Weit kommt man damit auch nicht. Aber KvKs - Kippen von Kameraden - zu rauchen, dazu konnte ich mich beim besten Willen noch nicht durchringen, obwohl wir jetzt manch- mal drei und vier Mann an einer Zigarette ziehen, wenn einer das unvorstellbare Glück hat, irgendwo noch eine aufzutreiben.
Unser Stubengescheitester ist schon ganz krank. Er hat Nikotin-Neurose. Sobald er jemanden rauchen sieht und kann nicht mittun, dann treten ihm die Augen aus der Fassung.
Na, zwei Tage noch. Dann haben wir wieder einmal für ein Weilchen ausgelitten, und bis dahin müssen wir noch durchhalten.
• Himmler befiehlt die Errichtung von ,,Sonderstandgerichten zur Bekämpfung von Auflösungserscheinungen".
Über 1.000 Bomber der USAAF bombardieren Berlin. Später sagt man dazu ,,overkill"

27. Februar 1945, Di.                                                      
Der russische Vormarsch ist nicht mehr aufzuhalten. Von Tag zu Tag wird die militärische Lage bedrohlicher. Im Norden der Front haben die feindlichen Armeen bereits die Weichsel überschritten und stehen in Pommern. Im Süden ist die Oder erreicht und im schlesisch-tschechoslowakischen Raum ist eine nach Norden schwenkende Front entstanden, die Anschluß an die am Rhein stehenden westlichen Alliierten sucht. Der Ring schließt sich. Die Schlinge wird zugezogen.
Was nun? Diese Frage stellt auch meine Frau und ich soll sie beantworten, d. h. den Verlauf des über uns hereinbrechenden nationalen Unglückes vorausbestimmen. Wer kann das?
Trotzdem haben wir auch darüber schon früher einmal unsere Gedanken ausgetauscht und waren zu dem Ergebnis gekommen, daß Gertrud dann nach eigenem Ermessen handeln und sich am besten nach den anderen richten soll, da ich, an irgend einem Frontabschnitt weit entfernt, ihr doch nicht helfen und ohne persönlichen Einblick in die Dinge auch nicht raten könne. In solchen Situationen entscheidet der letzte Augenblick.
Ob es zweckmäßig ist, sich vorerst mit den Kindern ins Erzgebirge* zu ihren Verwandten zu flüchten, ist gleichfalls kaum zu beantworten. Ein Krieg, der Kontinente erfaßt hat, wird in einem kleinen Land nicht einzelne Gebiete umgehen. Dazu ist das Geschehen viel zu groß und sie würden nur der Not, der sie in Dresden entgehen, an einem andern Ort entgegenlaufen. Das Meer kennt Inseln, die die Woge verschont. Der Krieg nicht!
Außerdem wäre eine Flucht jetzt nach der Zerstörung Dresdens bei der herrschenden Wohnraumnot gleichbedeutend mit der Aufgabe der Wohnung und jeglichen Besitzes. Sollte die nationale Katastrophe darüber hinaus in ein Chaos ausarten, dann hat das Leben sowieso aufgehört. Warum soll man sich die letzten Tage noch unnötig erschweren, sich mit unnützen Sorgen belasten und dann wie ein Landstreicher durchs Leben schlagen? Wir waren alle viel zu reich, als daß wir uns in dieser Armseligkeit dann noch glücklich fühlen könnten! Man nimmt das Gute, das Schlechte aber wirft man weg. So weit ist es aber noch nicht. –
* das Gebiet um Schwarzenberg wird bis Juni 45 von den Siegern ,,übersehen" und dann von den Russen besetzt (-> Uran).

28. Februar 1945, Mi.                                                      
Heute hat der FTC-Lehrgang seinen Abschluß gemacht. Die Kameraden haben es überstanden. Ich wünschte, wir wären auch schon so weit. Die meisten vom FTC-Lehrgang werden zur Infanterie abgeschoben. Davon sind sie natürlich gar nicht sehr erbaut, aber was hilft das alles. Immerhin, der Lehrgang wäre dann wohl nicht erst nötig gewesen, aber schließlich kann man auch darüber streiten. Es ist ja immer falsch, wie man es macht.
• Südlich Libau tobt seit dem 20.02. die ,,5. Kurlandschlacht")
Im Februar 1945 gelingt es den ,,auf verlorenen Posten kämpfenden" deutschen U-Booten  noch 17 alliierte Frachter zu versenken.

01. März 1945, Do.                        
Heute traf ich einen ehemaligen Kameraden von Bernau, der ebenfalls hier zur Nachrichtenschule kommandiert ist. Er erzählte mir, daß die gesamte ,,Koralle"-Funkstelle nach Sengwarden bei Wilhelmshaven verlegt wurde. Man fühlt sich also in Bernau schon nicht mehr sicher. Die Masse strömt ins Landesinnere, und dabei wird Deutschland doch von Tag zu Tag kleiner. Wohin soll das noch führen?
• Kriegserklärung der Türkei.

02. März 1945, Fr.                        
Auf meiner Schulbank entdeckte ich heute eine neue Inschrift. Tief ist sie ins Holz eingeschnitzt und lautet: ,,Armer Infanterist, der du balde bist, ohne Kopf im Himmel ..." Weiter ist der Kamerad mit seiner Schnitzerei nicht gekommen, aber der Sinn ist ja auch so klar. Sicher war es einer vom FTC-Lehr- gang. Ihnen blüht ja dieses Los. Armer Infanterist! Das kann man wohl sagen.
• Sie können es nicht lassen und sie haben noch genug: 400 amerikanische Flugzeuge werfen wieder Bomben auf Dresden. Später wird man davon nicht mehr wissen wollen! Am 17. April flog die 8. Bomberflotte der USAAF mit über 550 Maschinen den letzten Angriff (Spreng- und Brandbomben) auf das Stadtgebiet.

03. März 1945, Sa.                        
In den Taktikstunden bei 01 schlafe ich nicht; denn aus seinen Stunden kann man tatsächlich etwas mitnehmen. Er schildert uns, von einer höheren Warte aus gesehen, die einzelnen Zweige des Nachrichtendienstes in so anschaulicher Weise und spricht über ihre spezifischen Eigenarten, ihren Einsatz und Ansatz so klar und fesselnd, daß man einfach mitgehen muß. 
Dabei nimmt er nie einen doktrinären Standpunkt ein, sondern weiß Vor- und Nachteile der einzelnen Nachrichtenmittel geschickt herauszustellen und abzuwägen und läßt jederzeit auch gern einen entgegengesetzten Standpunkt gelten. Seine langjährige Erfahrung auf allen diesen Gebieten und eine ausgedehnte Bordpraxis kommt ihm sehr zustatten. Ich höre ihm immer sehr gern zu; denn hier steht wirklich einmal der richtige Mann an der richtigen Stelle.
• Finnland erklärt Deutschland den Krieg.

04. März 1945                           
Sonntag. Das Essen hier auf der Nachrichtenschule ist nicht berühmt. Vor allen Dingen aber ist es reichlich knapp. Wenn man mittags vier oder fünf Schalkartoffeln mittlerer Güte ergattern will, dann muß man sich schon sehr dazuhalten. Aus diesem Grunde ist wohl auch die stete Tendenz ,,KdF-BDM" zu erklären: ,,Kann dauernd fressen – bin dauernd müde"!
• Britischer Nachtangriff auf die Treibstoffwerke Kamen bei Dortmund. Auf dem Rückflug verfolgen über 100 deutsche Jäger den Verband und schießen über England 19 Bomber ab.
   
05. März 1945,Mo.                        
Wie schon in den früheren Jahren, so leidet unser Standort auch jetzt noch an seinen beiden alten Schwächen, der Straßenbahn und dem Mützenbügel. Auf diesen Gebieten gibt es für Flensburg scheinbar kein Klarkommen und auch keinen Kompromiß.
Erst neulich traf folgende Meldung bei der NS ein: Ein Herr Funkobergefreiter hat, da er von der überfüllten Straßenbahn nicht mitgenommen wurde, kurzerhand an dem langen Tampen gezogen, der hinauf zum Strombügel führt. Die Straßenbahn hielt infolgedessen wieder und mußte den hartnäckigen Fahrgast nunmehr wohl oder übel mitnehmen.
Eine andere Sache wurde mir von einem Kameraden erzählt, der wegen seines welligen Mützenbügels von der Straßenstreife angehalten worden war. Dabei mußte er sich folgenden klassischen Satz anhören: ,,Wenn Ihre innere Haltung genau so verbogen ist wie Ihr Mützenbügel, dann können Sie mir in der Seele leid tun!"
Ich glaube, der Kritiker hatte nicht einmal ganz unrecht.-
• Die Alliierten stehen entlang dem westlichen Rheinufer.
Die ,,Festung" Graudenz, seit dem 18.2. eingeschlossen, kapituliert.
Durch einen deutschen Gegenangriff in Niederschlesien, begonnen 01.03., kann die Stadt Lauban zurückerobert werden. Die russische Gruppierung wird vernichtet. Im weiteren Verlauf wird das nicht evakuierte Striegau (F.d.G. 1745 Hohenfriedberg, Striegauer Wasser) wieder eingenommen. Der erneute Angriff sowjetischer Kräfte wird durch eigene Schlachtflieger (unklare Lage) größtenteils zerschlagen.
Einberufung des Jahrgangs 1929 in Deutschland.

06. März 1945, Di.                        
Seit dem Ersten haben wir nun wieder zu rauchen. Dafür aber fehlen die Streichhölzer. Seit Wochen sind in ganz Flensburg keine mehr aufzutreiben. So rennt man sich denn nach etwas Feuer gewöhnlich ein Paar Stiefelsohlen ab. Hat man endlich einen glücklichen Streichholzbesitzer entdeckt, dann taugt gewöhnlich die Reibfläche an der Schachtel nichts mehr. Zwei kostbare Streichhölzer gehen dadurch verloren, beim dritten springt einem die Kuppe an = Partisan, und das vierte bricht teuflischerweise ab. Es ist nichts mehr beisammen.
• Deutsche Offensive nördlich des Plattensees. Es geht um das ungarische Ölgebiet bei Nagy Kanisza. Am 15.3. eingestellt wegen schweren russischen Gegenangriffen.

07. März 1945, Mi.                        
Langsam wagt sich nun auch der Frühling wieder hervor. Die Sonne küßt die Erde, der Schnee schmilzt. Schmutzigbraune Wasserlachen bevölkern Straßen und Wege. Die Felder nehmen wieder ihre gesunde braune Farbe an, und auf den Wiesen tritt zaghaft und scheu erstes graues Grün hervor. Es geht wieder aufwärts, aber nicht mit unseren zahlreichen Feld-, Wald- und Wiesenstellungen. Sie sind jetzt völlig abgesoffen und teilweise ganz in sich zusammengesunken. Vier Wochen wird man noch warten müssen, und dann kann man wieder ganz von vorn anfangen. Der General Winter ist auch gegen uns. Hier sieht man es wieder, aber das war ja schon immer so. Wir wollten es nur nicht glauben.-

08. März 1945, Do.                        
Gertrud schreibt, von Überlegungen hin und hergeworfen, daß sie nun doch zu ihren Verwandten ins Gebirge fahren will. Auch ich habe mir unaufhörlich den Kopf zermartert, was wohl das Beste sei. Nachdem ich nun nochmals all das Für und Wider gegeneinander abgewogen habe, bin ich aber nun doch zu der Überzeugung gekommen, daß es das richtigste ist, wenn sie alle zusammen zu Hause in Dresden bleiben. Ich habe Gertrud diese meine Ansicht heute nunmehr auch mitgeteilt und bin mir bewußt, daß ich mit diesem Ratschlag die Verantwortung für alles Kommende übernommen habe.
Jeder weitere Gedanke ist nun überflüssig und unsinnig; denn er führt doch nur zu dem gleichen Ergebnis. Im Augenblick führt kein Weg aus der Zeit, und Not und Tod sind jetzt überall zu Hause. Mithin ist es auch ganz gleich, wo wir ihnen begegnen!
Traurig und zu tiefst erschütternd aber ist die Erkenntnis, daß alle Liebe, alle Sorgen und alle Kraft nicht ausreichen, um unsere Lieben daheim zu schützen und vor dem Ärgsten zu bewahren. Das aber ist die Katastrophe, die auf ideellem Gebiet über uns hereinbricht. Es bröckelt wieder viel vom Himmelreich ab.

09. März 1945, Fr.                        
Schlecht ist in Flensburg z. Z. die Grußdisziplin. Viele Soldaten grüßen überhaupt nicht oder können sich nur zu einer verstümmelten Ehrenbezeigung aufraffen.
Gewiß, die neue Grußform (deutscher Gruß, Erheben des rechten Armes, nicht mehr Handanlegen an die Mütze) verleitet dazu und findet auch heute noch keinen rechten Anklang. Im Übrigen aber sind es meist junge und jüngste Soldaten, die durch einen schlechten Gruß und schnodderiges Verhalten auffallen. Vielleicht glauben sie, der andere warte auf ihren Gruß und hat daran seine besondere Freude. Ich möchte wissen, welche. Man muß ja auch grüßen und strengt sich dabei gewöhnlich noch mehr an, weil unter erzogenen Menschen gewisse gesellschaftliche Umgangsformen nun einmal richtig und üblich sind.
Darüber hinaus aber ist der militärische Gruß zugleich ein Spiegelbild der Disziplin. Das läßt sich nicht leugnen. Er charakterisiert den einzelnen Soldaten und die gesamte Truppe, und wenn heutzutage vielfach so lässig gegrüßt wird, dann ist das nur der äußere Ausdruck für eine innere Einstellung, die sagt: ,,Es ist ja sowieso bald alles vorüber. Dann könnt ihr uns den Buckel herunterrutschen!" Das aber sind Auflösungserscheinungen, die das kommende Ende auch von innen her beleuchten.

Seefuchs

Ganz, ganz tolle Zeilen! Bitte weiter!

Tatsächlich gibt es die Ilja Ehrenburg Strasse in Rostock immer noch.....! Unglaublich!

Ich sage nur "Traditionserlass2 der BW!

Seefuchs
In der Werft: SMS König; KM Lützow

Seekrieg

#6
5. Endspurt

10. März 1945, Sa.                        
,,Fähnriche! Fähnriche! Jetzt geht's zum Endspurt!" doziert unser lieber Zugführer, und dann verfällt er wieder in seine Ultra-Pädagogik, von der weder der Laie noch der Fachmann etwas spürt. Ich greife zu meinem Kriminalroman ,,Die kalte Hand" und lese. Die Handlung ist gruselig und schön. Sie bewegt sich jenseits aller Logik und Wahrscheinlichkeit in allen möglichen und unmöglichen Ebenen.
Trotzdem verweilt man gern in diesem schwerelosen Terrain und akzeptiert willig die Entspannung, die auch leichte Literatur mitunter zu vermitteln vermag. Man muß die letzten ruhigen Stunden ausnützen und genießen. Wer weiß, wenn es uns wieder einmal so gut geht.

11. März 1945, So.
• Amerikanische Luftangriffe auf Kiel, Bremen und Hamburg, die RAF bei Nacht mit 1000 Flugzeugen auf Essen.

12. März 1945, Mo.                        
Unserer 01 hat doch recht vernünftige Ansichten. Heute sagte er: ,,Es ist ein Unding, daß die Soldaten in den Kasernen sitzen und die zivile Bevölkerung als Volkssturm den Schutz der Heimat übernimmt!"
Diesen Standpunkt habe ich schon lange vertreten, und jeder ehrliche Mensch wird dem beipflichten; denn schon die Achtung und Pietät unseren Eltern gegenüber verbietet ein solches Unterfangen. Und im Übrigen soll man von unseren ältesten Jahrgängen nicht noch erzwingen wollen, was nicht einmal unseren aktiven und heldenhaft kämpfenden Elitetruppen gelingt. Alles hat einmal eine Grenze. Sie ist aber nicht nur erreicht, sondern schon lange überschritten! –
Vor einigen Tagen äußerte sich unser 01 auch einmal darüber, daß wir den Krieg möglicherweise auch verlieren könnten. Nun ist das keine absolute Neuigkeit mehr, aber eine Ansicht, die man nicht einmal gern im engsten Kameradenkreise diskutiert. Unser 01 aber sagt das laut und öffentlich vor einem Forum von so und soviel Lehrgangsteilnehmern und Offizieren. Das aber sind heutzutage immer noch Dinge, die man denken kann, die man klugerweise aber besser nicht ausspricht. Man braucht doch nur die Presse und die Verordnungen zu lesen, um zu wissen, daß man durch solche Äußerungen zum Saboteur und Defätist wird und Kopf und Kragen riskiert. Wenn er sich trotzdem zu solch einem offenen Wort herbeiläßt, dann ist das ein sehr großer Vertrauensbeweis uns gegenüber, der ihn nur noch mehr in unserer Achtung steigen läßt. Kapitän Skibowski ist deshalb auch der beliebteste und geach-tetste Offizier der Marine-Nachrichtenschule Mürwik.

13. März 1945, Di.                        
Alles arbeitet schon auf die Besichtigung hin, und auch der gesamte Unterricht ist darauf eingestellt. Schon tauchen immer häufiger die typischen Konglomeratprüfungsfragen auf wie z. B. ,,Wann muß man wo, unter welchen Voraussetzungen, an welchem Knopf, wie lange, in welcher Richtung drehen?"
Nächste Woche sind schon die Schlußarbeiten fällig. Das Rennen machen natürlich diejenigen, die von den Schulen und Ausbildungsstätten kommen, dort als Ausbilder fungiert haben und das meiste schon x-mal durchgepaukt haben. Aber wir anderen schaffen es auch. Keine Bange!
• Kräfte der russischen Armee beginnen im Raum Heiligenbeil (Ostpreußen) einen Großangriff. Die südwestlichen Verbindungen in die Festung Königsberg gehen sofort verloren.

15. März 1945, Do.                        
Wie ist es eigentlich zu erklären, daß der Dienstrang des Fähnrichs so viel Spitznamen aufzuweisen hat? Ist der Fähnrich nun tatsächlich eine solch spottwürdige Figur oder reiben sich hier an der Grenzlinie zwischen Mannschafts- und Offiziersrang die dienstlichen Unebenheiten an sich schon in besonderem Maße? Ein äußerst anfälliger Dienstrang ist es ohne Zweifel.
Die gebräuchlichste Bezeichnung lautet, wenigstens hier in Flensburg, Kakerlake. Was haben wir denn nun mit diesen kleinen Tierchen gemein? Ist es die Häufigkeit, mit der sie auftreten, ihre Freßlust oder der Umstand, daß sie überall auftauchen, wo sie nicht hingehören? Ich finde trotz aller Überlegung keine direkte Parallele.
Sinnfälliger dagegen ist in Hinblick auf die schmalen Schulterstücke die Bezeichnung Schmalspuroffizier. Darunter kann man sich wenigstens noch etwas vorstellen und eine Beziehung ableiten.
Fähnrich ist aber auch ein imaginärer, fast möchte ich sagen, embryonenhafter Dienstrang, eine unangenehme Zwitterstellung. Man fühlt sich ganz verlassen und kommt sich vor wie ein Hund ohne Schwanz. Man ist nichts Ganzes und nichts Halbes. Ein Jahr lang geht man gewöhnlich als Fähnrich schwanger, bevor man endlich nach vielen Lehrgangswehen ein paar dünne Kolbenringe gebiert.  Es ist eine lange Zeit, zumal wen man bedenkt, daß zur Herstellung eines gänzlich neuen Menschen nur neun Monate benötigt werden!
• Amerikanische Flugzeuge bombardieren mit geringer Erfolg das verbunkerte Hauptquartier des OKH und des Wehrmachtsführungsstab in Zossen südlich Berlin. Die Lage war dem Gegner doch schon lange bekannt. Warum erst jetzt? Na? Das Gebiet fällt in den russischen Besatzungsbereich! Da kann man doch mal draufhauen! -

17. März 1945, Sa.                        
Von zu Hause ist immer noch keine Post eingegangen. Ich weiß nicht, ob Gertrud meinen Brief rechtzeitig erhalten hat und ob die Meinen noch zu Hause in Dresden oder schon im Gebirge sind. Unruhig flattern die suchenden Gedanken hin und her und wissen nicht, wo sie sich niederlassen können. Sie kommen nicht zur Ruhe und sind doch so müde.
• Kräfte der US-Armee besetzen Koblenz.

18. März 1945, So.
• Bisher schwerster Luftangriff der Amerikaner auf Berlin mit über 4 000 t Sprengbomben.
Der 14tägige Kampf um Kolberg ist zu Ende. Vor den polnischen und der russischen Truppen können ca. 75 000 Personen, Einwohner, Verwundete und Soldaten von der Kriegsmarine abtransportiert werden.

19. März 1945, Mo.                        
Mein Bernauer Kamerad, der mit der alten Dienststelle noch in regem Briefwechsel steht, erzählte mir heute, daß ein Teil der Bernauer Funkstelle nach Langenargen (Bodensee) verlegt worden sei. Auf der Fahrt dorthin sei der Transport von englischen Jagdfliegern angegriffen worden. 34 Kameraden hätten dabei den Tod gefunden. Einzelne Namen waren ihm aber noch nicht bekannt.
Ich möchte einmal wissen, wie viel von unserem Hundertmillionenvolk nach dem Kriege noch übrig geblieben sein wird.
• Der Führer erläßt den Befehl ,,Verbrannte Erde" (,,Nero-Befehl"). Sämtlicher Industrie- und Versorgungsanlagen innerhalb des Reichsgebietes sollen vor dem Rückzug der deutschen Truppen zerstört werden.

20. März 1945, Di.                        
Heute wurde bei der Musterung bekanntgegeben, daß jeder zur Rechenschaft gezogen wird, der sein Gebiß zerbricht. Kamerad Pohl ergänzt die Ver- ordnung noch in ironischer Weise und meint: ,,Ferner wird bestraft, wer sein Glasauge vorsätzlich verlegt oder mit seinem Holzbein Feuer anmacht!"
Das ist natürlich frivol, trifft aber den Kern der Sache. Wenn man sich dann noch eine der letzten Bestimmungen vor Augen hält, wonach für jeden Soldaten, der unverwundet in Gefangenschaft fällt, die Angehörigen haften, dann weiß man so ziemlich genau, was draußen an der Front an- liegt.               
• Die Amerikaner bomben Hamburg.

21. März 1945, Mi.                            
Heute besuchte uns ein ,,besserer" Herr, seinen Namen habe ich wieder vergessen, und gab uns unsere neuen Kommandos bekannt. Wir waren gespannt wie ein alter Regenschirm. Noch einmal wurden wir dem Kriegsgott wie auf einem Präsentierteller zum Zulangen herumgereicht. Bordstellen waren diesmal keine dabei.
In der Hauptsache handelte es sich um MND- und Peilstellen. Mein Kommando liegt beim Marineoberkommando Nord, steht aber im Einzelnen noch nicht genau fest. Im Übrigen erstrecken sich unsere Kommandos auf den Raum Warnemünde, Saßnitz, Bornholm, Dänemark, Wilhelmshaven, Norddeich, Borkum und Soest.
Nach Norwegen wird niemand mehr verfrachtet, da dort sämtliche Stellen voll besetzt sind. Fünf Mann von unserem Lehrgang bleiben außerdem hier und absolvieren noch einen Lehrgang in Funkmeß, um danach auf diesem Gebiet eingesetzt zu werden. Diese Kameraden tun mir am meisten leid. Ein Lehr- gang ist ganz schön. Zwei Lehrgänge, daß ist schon weniger hübsch; aber nun gar noch einen dritten, das halten die stärksten Nerven nicht ab. Wenn man nämlich monatelang nichts anderes zu tun hat, als immer und immer wieder nur zu pauken und zu büffeln, dann ergeht es einem zuletzt wie einem Akku, der zu lange und zu stark aufgeladen wird. Er erhitzt sich und fängt an zu kochen. Das aber ist für alle Beteiligten nicht gut! 

22. März 1945, Do.                        
Jetzt wird auch noch der elektrische Strom rationiert. Ab heute gibt es in der Zeit von 19 bis 21 Uhr kein Licht mehr. Es greift eben eins ins andere. Erst ging uns die Heizung aus und jetzt das Licht. Alles das sind Anzeichen für eine beginnende oder auch endende wirtschaftliche Ausblutung. Auch hier kommt eines nach dem anderen, langsam, sicher und unaufhaltsam! –
• Amerikanische Kräfte überwinden den Rhein bei Oppenheim.

23. März 1945, Fr.
• Eine russische Offensive ,,stückelt" die Verteidigungslinie Hela - Oxhöft-Gotenhafen und Danzig-Weichselniederung in drei Teile. Die russischen Truppen rennen südlich Frauenburg gegen die Front der 18. Armee an. Die ,,6. Kurlandschlacht" begann am 18.3.

24. März 1945, Sa.                        
Der Frühling feiert seine ersten Triumphe. Die Schneeglöckchen läuten und die Krokusse blühen. Der Posten am Haupttor tritt wieder ohne seine großen Filzstiefel heraus, die kleinen Mädchen schürzen die Röckchen höher und die Männer lassen ihre schweren Wintermäntel daheim. In den Bäumen zeigen sich die ersten grünen Blattspitzen. Einige kleine gefiederte Sänger sind auch schon da, und die einheimischen Spatzen gebärden sich wie toll vor Freu- de, weil sie nun einen reichlicher gedeckten Tisch vorfinden und nicht mehr nur auf die eintönigen ,,Pferdepfannkuchen" der Straße angewiesen sind.
Auf den nahen Hängen pflügen die Bauern und bestellen ihre Felder. Schnurgerade ziehen sie tief die langen braunen Furchen und lassen sich auch durch die zahlreichen Schützenlöcher und MG-Nester nicht abbringen. Das ganze Stellungssystem wird mit umgepflügt und eingeebnet. Weiß der Bauer schon, wie es kommen wird? Nimmt er bereits die zukünftige Entwicklung, den kommenden Frieden voraus? Der Bauer steht mehr als jeder andere mit beiden Füßen fest auf der Erde, und deshalb glaube ich auch, muß er am besten wissen, was uns not tut und was kommt! Der Pflug über unseren Schützengräben ist Untergang und Aufstieg, Retraite* und Fanal! – (*Rückzug, Zapfenstreich)
• Die 21. alliierte Heeres-Gruppe (FM Montgomery) überwindet den Rhein bei Wesel. Amerikanische Bomber fliegen einen Angriff auf Berlin. Gestartet sind sie in Italien!

26. März 1945, Mo.                        
Heute ging endlich die langersehnte Post von zu Hause ein. Gertrud ist mit den Kindern noch in Dresden. Ich freue mich, daß sie meinen Rat befolgt hat und will ihr auch gleich ein paar aufmunternde Zeilen schreiben.
,,Meine Lieben! Ich bin Euch dankbar, daß Ihr die Kraft zum Ausharren aufgebracht habt. Es gibt nun einmal Dinge, vor denen man nicht flüchten kann und auch nicht soll. In Zeiten der Not soll der Mensch dort stehen und ausharren, wo er zu Hause ist und hingehört, der Bauer auf seiner Scholle und der Städter in seinen Mauern. Auch die Heimat verlangt eine Treue und all die Dinge, die uns im Leben bisher begleiteten. Ich würde jedenfalls nicht weichen, sondern versuchen, das mit aller Kraft und mit ganzem Herzen festzuhalten, was einem noch gehört. Nur was man aufgibt, das hat man verloren"!
,,Also Kopf hoch! Sind wir bis jetzt heil durch die sechs langen Kriegsjahre gekommen, dann halten wir uns auch noch die letzten paar Wochen über Wasser. Fasse Mut! Denk an das Nächstliegende, laß aber auch das Übermorgen nicht außer acht. Bestell jetzt im Frühling wie jedes Jahr auch Deinen Garten, stecke Kartoffeln und pflanze auch Tabak. Wir werden alles gebrauchen. Im Übrigen aber mag ein gütiges Geschick mir Dich und die Buben erhalten, und dann wird die Zeit das ihrige tun." –

27. März 1945, Di.                        
Ich glaubte immer, bei uns älteren und verheirateten Soldaten wären die Sorgen um die Lieben daheim am größten, aber auch unsere jüngeren Kameraden leiden schwer unter den jetzigen Verhältnissen.
Der junge Obergefreite B., den ich noch von Bernau her kenne und der jetzt hier in Mürwik an einem Maatenlehrgang teilnimmt, wartet seit dem 26. Februar auf Post von seinen Eltern aus Chemnitz, das in der letzten Zeit ebenfalls laufend schweren Luftangriffen ausgesetzt war.
Noch schlimmer ergeht es unserem jungen Kameraden M. Zu seinen Eltern, die im feindbesetzten Rheinland wohnen, ist schon seit Wochen jede Verbindung abgerissen. Sein ältester Bruder wird seit Monaten in Rußland vermisst. Sein zweiter Bruder, der mit mir in Bernau war, ist auf dem Transport nach Langenargen durch den Fliegerangriff schwer verletzt worden. Ihm mußte ein Bein abgenommen werden. So sieht der Krieg in seiner letzten Phase schon in der Heimat aus. Er frißt alles und keiner bleibt verschont!

28. März 1945, Mi.                        
Nun müssen wir noch durch das schmale Nadelöhr der Besichtigung, die heute von 9 bis 11 Uhr angesetzt ist. Erwartungsvoll stehen wir im großen Prüfungsraum und harren der Dinge, die da kommen sollen. Unsere Ausbilder sind auch schon vollzählig zur Stelle. Der 01 ist eben zur Tür gegangen, um den Kommandeur in Empfang zu nehmen. Es ist gleich 9 Uhr. Er muß jeden Augenblick erscheinen.
Endlich kommt der Hund, d. h. sein Dackel. Am Schott verhält er kurz, mustert mit klugem Blick die Runde und springt das flugs auf den ersten der bereitstehenden Stühle und setzt sich hier in Positur.
Jetzt tritt auch der Kommandeur selbst ein. Er begrüßt uns kurz und dann geht es in ,,medias res". Ein Planspiel dient als Ausgangspunkt, und daran knüpfen sich dann allerhand taktische und technische Erwägungen. Das ganze spielt sich aber sehr ruhig ab, und oft ergreift der Kommandeur selbst das Wort, um seine Stellungnahme zu dieser oder jener Frage kurz zu umreißen. Man sagt, er habe eine ruhige Nacht gehabt.
So ging auch diese letzte Prüfung schmerzlos an uns vorüber. Mit der Bestallung zum Oberfähnrich in der Tasche sind wir entlassen und dürfen die Fahrt zum neuen Kommando antreten. So eilig haben wir es aber gar nicht. Jetzt wollen wir nach den angestrengten Tagen erst einmal in Ruhe verschnaufen und Ostern feiern. Wenn nach den Feiertagen der Krieg noch nicht zu Ende sein sollte, dann kann man ja immer noch sagen: ,,Na, denn man tau!"
• Gotenhafen in russischer Hand.

29. März 1945, Do.                        
Heute habe ich auch meine Führung gelesen. Ich war erstaunt; denn sie ist wirklich gut. Es trat darin sogar ein neuer, bisher noch nicht verbuchter Charakterzug von mir in Erscheinung. Es steht nämlich geschrieben: ,,Manchmal etwas eigensinnig." Der Mann hat recht. Ich habe manchmal meinen eigenen Sinn und davon bringt mich dann auch so leicht niemand ab. Immerhin bin ich mir noch im Zweifel, wie es unser Zugführer im Grunde gemeint hat. Mit anderen Worten: Es wäre noch die Frage zu klären, ob das nun ein Tadel sein soll oder eine Empfehlung, aber darüber sprechen wir ein andermal.

30. März 1945, Fr.
• Danzig verloren. Amerikanische Bomben auf Hamburg, Bremen und Wilhelmshaven. Kreuzer ,,Köln" sinkt. Im März 1945 versenkten deutsche U-Boote im Atlantik 16 alliierte Handelsschiffe mit 67 386 BRT.* U-Boot-Archiv

S t...,  Woldemar       Stammrollen-Nummer IV 0..../38 DET

Fähnrich

Dienststelle: Marine-Nachrichten-Schule Mürwik / Abkommandierung an

vom 7.1. bis 30. III. 1945   =      0 Jahr   2 Mon.   25 Tage

Abschlußbeurteilung
vom FTB-ROA-Lehrgang Flensburg- Mürwik

a) Ausschließliche Verwendung im Funkdienst. Fronteinsatz auf Vp.- und M-Booten. Auf allen Kommandos als zuverlässiger, selbständig arbeitender Wach- und Stationsleiter beurteilt.

b) Leistungen im Waffen- bzw. Fachdienst
Seine Fachleistungen sind genügend bis ziemlich gut. Verspricht im praktischen Einsatz mehr zu leisten, als er auf dem Lehrgang zeigen konnte. Arbeitet sehr zuverlässig und pflichtbewußt.

b) allgemeine militärische Leistungen und Eigenschaften
Besitzt Führereigenschaften. Versteht es, bei guter soldatischer Haltung sich Untergebenen gegenüber durchzusetzen.

c) Charakter und Anlagen
Strebsamer, gereifter Charakter mit stillem, zurückhaltendem Wesen. Gegenüber Ermahnungen leicht etwas eigensinnig. Bei ziemlich guter Allgemeinbildung faßt er etwas schwer auf, gleicht diesen Mangel aber durch Fleiß aus. Beim Herantreten an neue Dinge verhält er sich abwartend, besitzt aber Selbstvertrauen und läßt sich so leicht nicht unterkriegen.
Besitzt  den Willen, Gutes zu leisten, bleibt aber noch zu sehr an Kleinigkeiten hängen. Auch fehlt ihm noch der nötige Schwung, um Untergebene mitzureißen. Einsatzbereitschaft und Verantwortungsbewußtsein sind anzuerkennen.

d) Führung:   [8] sehr gut

e) Diensttüchtigkeit  (Gesamturteil aus a) - d) )
- 6 1/4 -  (ziemlich gut), gemessen an den an einen ROA zu stellenden Anforderungen.

Bestanden als 11. unter 19 Teilnehmern des FTB-ROA-Lehrgang

Geeignet: 2.MNO im U-Bootnachrichtendienst.                     
Mürwik, den 30.III.45                          Zugführer: Ltn. Bredendiek.
Ob. Ltn. u. Komp.Chef:  ......

Es ist interessant und zuweilen auch wertvoll zu wissen, wie man von anderen beurteilt wird. Trifft ein solches Urteil auch nicht immer und in allen Einzelheiten zu, so zeigt es doch, wie man gesehen und worauf Wert gelegt wird. Es ist darum auch kein Fehler, aus dem Urteil anderer zu lernen; denn wie es auch immer ausgefallen sein mag, eines zeigt es immer: Fremde Augen sehen immer schärfer und gewöhnlich auch mehr als die eigenen! -
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t-geronimo

Gruß, Thorsten

"There is every possibility that things are going to change completely."
(Captain Tennant, HMS Repulse, 09.12.1941)

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