Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht

Begonnen von Urs Heßling, 05 Mai 2020, 12:04:53

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

maxim

@ Spee: Die Unterstellung ist, dass die Meuterer "nur" ihr Leben retten wollten, gar frühere überzeugte Nazis gewesen seien, Saboteure etc. Du kennst aber die Motive nicht. Richtig? Hier gehst du von dem "schlimmsten" aus, aber bei Soldaten, die weiter für das Regime kämpften, vom "besten". Oder verstehe ich da etwas falsch?


@ Hastei: Hier ging es um eine Meuterei, in der ein nennenswerter Teil einer Schiffsbesatzung GEMEINSAM die Aktion der Offiziere stoppen wollte. Die sind nicht davon gelaufen, sondern haben gemeinsam gehandelt. Die haben niemanden zurück gelassen.

"ich hatte die Schnauze einfach voll, ewig Hunger und dann die Kälte" im Falle des Deserteurs ist sicher keine Motivation, die man als große Widerstandsaktion bezeichnen könnte. Aber das sind logische, verständliche Motive, die sehr viel Sinn machten. Sinnvolle Motive derer, die weiter für Nazi-Deutschland kämpften (und zwar egal, ob sie das bewusst oder sonst irgendwie machten), sind schon sehr viel schwieriger zu finden. Das Weiterkämpfen hat das Weiterbestehen zeitweise gesichert, also auch, dass sehr viel mehr deutsche Soldaten umkamen. Die meisten kamen in den Kämpfen gegen Kriegsende um.

Arche

Hallo zusammen,

vielleicht hat Axel auch mich gemeint, der hier mit Besserwisserei auffällt. Für ist es so. Wenn wir beide die Akte lesen, dann haben wir einfach jeder für sich einen anderen Blickwinkel und ein anderes Ziel. Ich würde ihn aber gerne Fragen, wenn ich etwas nicht verstehe oder wenn ich etwas wissen möchte. Der Blickwinkel der Jüngeren wird sich immer ändern, je weiter die Zeit läuft. Jüngere ändern heutzutage schnell mal die Seite und wir wundern uns dann über Demos, wo ganz rechts und ganz links gemeinsame Sache machen. Die jungen Menschen sollten immer ein Recht haben, Fragen zu stellen. Soweit es möglich ist, sollte dann ein Forum auch Antworten geben.

Das Urs dieses Thema hier eingestellt hat, fand ich sehr erfreulich, da mich erst vor ein paar Wochen mit M 612 beschäftigt habe.

Der Grund war sicherlich, dass es sich um einen Fall kurz vor Kriegsende handelte und es für viele ein Kriegsverbrechen war. Die juristische Aufarbeitung ergab aber, es war kein Verbrechen und die Aburteilung der Marinesoldaten wegen Meuterei und Aufruhr war korrekt. Keiner der Beteiligten hat sich später öffentlich mit seiner Rolle auseinandergesetzt und hat der nachfolgenden Generation etwas mit auf dem Weg gegeben. Wie in unsere Gesellschaft üblich, hilft man sich später mit bestehenden Aktenmaterial. Forschende kommen dabei sicherlich zu unterschiedlichen Ergebnissen. Grundsätzlich hatten wir aber vor einiger Zeit den Hinweis, dass Jüngere hier nicht abgekanzelt werden sollen, weil sie die Dinge u.a. auch vereinfacht darstellen. So sollte es bleiben.

Wir sind hier schnell wieder bei dem Thema Fahnenflucht gelandet. Da gibt es ja Forschungen und es wurde festgestellt, dass die meisten Soldaten aus Angst vor Strafe abgehauen sind. Das heisst, sie haben etwas angestellt (Diebstahl, Kameradendiebstahl, Unterschlagung, persönliche Gründe). Der Grundgedanke "Einer für alle-alle für einen" wurde ignoriert und das "Ich" in Vordergrund gestellt. Dieser Kerngedanke des Soldatentums steht immer ganz vorne. Wenn man jetzt Gerichtsakten liesst, dann weiß man was der Ankläger will, aber man weiß nie, wie zum Beispiel die Beisitzer wirklich dachten und schon gar nicht die, die das Exekutionskommando stellten, dass ja in der Regel aus dem letzten Kommando des zum Todeverurteilten bestand. Ich habe bis jetzt nur eine Biographie gelesen, wo sich der Autor (U-Bootfahrer), dem Thema gestellt hatte, da selbst dazu berufen wurde.

Vermutlich meint Axel dies. Solche Themen finden nie ein Ende, da sie existentiell sind.
Heinz-Jürgen

maxim

Welche juristische Aufarbeitung meinst du? Die von 1949? Die deutsche Justiz wurde nie wirklich entnazifiziert, der Anteil von Richtern, die mal ein NSDAP-Parteibuch hatten, stieg in der Nachkriegszeit sogar. Das änderte sich erst, als diese Generation dann in Rente ging. Es ging kein Zufall, dass ein Großteil der Aufarbeitung der Zeit erst in den letzten 40, eher 20 Jahren erfolgte.

Laut der aktuellen Gesetzeslage ist das Urteil vom Mai 1945 zu Unrecht erklärt worden und die Opfer wurden 2009 rehabilitiert.

Spee

Servus,

@ Spee: Die Unterstellung ist, dass die Meuterer "nur" ihr Leben retten wollten, gar frühere überzeugte Nazis gewesen seien, Saboteure etc. Du kennst aber die Motive nicht. Richtig? Hier gehst du von dem "schlimmsten" aus, aber bei Soldaten, die weiter für das Regime kämpften, vom "besten". Oder verstehe ich da etwas falsch?

Ah, ich verstehe deine Zeilen.
Nein, ich unterstelle nicht jedem Meuterer grundsätzlich Negatives. Ich wollte nur darauf hinweisen, das es aus meiner Sicht nicht richtig ist, pauschal jedem Meuterer nur weil er in einer Diktatur gemeutert hat, einen Freispruch zu gewähren, weil es ja eine Widerstandshandlung sei. Das geht m.E. daneben.
Weiterkämpfen?! Ja, gute Frage. Weil man seine Familie in Gefahr sah, sein Leben schützen wollte. Wer weiß das so genau? Sind es nicht z.T. ähnliche Motive gewesen, die Soldaten zum Weiterkämpfen oder Desertieren gebracht haben. Die Einen aus Angst vor dem Sterben, die Anderen aus Angst vor der Gefangenschaft (speziell in der Sowjetunion). Ich denke, auch das  Weiterkämpfen hatte eine eigene Logik. die nicht zwingend nur darin bestand, den Nationalsozialismus am Leben zu halten.
Servus

Thomas

Suicide Is Not a War-Winning Strategy

maxim

Zitat von: Spee am 07 Mai 2020, 17:43:29
Ich denke, auch das  Weiterkämpfen hatte eine eigene Logik. die nicht zwingend nur darin bestand, den Nationalsozialismus am Leben zu halten.
Sicher, es gab noch andere Gründe, z.B. um die Gefangenschaft zu vermeiden - und das war sicher ein guter Grund, insbesondere, wenn man bedenkt, wie die Wehrmacht sowjetische Kriegsgefangene (seit 1941, siehe Kommissarbefehl) behandelt hat und dass Rache wahrscheinlich war.

Dann sollte man aber Leuten, die Offiziere daran hindern wollten, einen Einsatz zu fahren, obwohl eigentlich schon die Kapitulation erfolgt war, tendenziell mal recht geben. Es geht hier um diesen konkreten Fall. Und nicht um "pauschal jedem Meuterer".

Der pauschale Freispruch von 2009 erfolgte nicht deshalb, weil alles Widerstandshandlungen waren, sondern weil diese Leute gezwungen waren, für ein Unrechtsregime zu kämpfen.

Spee

Servus,

Dann sollte man aber Leuten, die Offiziere daran hindern wollten, einen Einsatz zu fahren, obwohl eigentlich schon die Kapitulation erfolgt war, tendenziell mal recht geben. Es geht hier um diesen konkreten Fall. Und nicht um "pauschal jedem Meuterer".

In diesem konkreten Fall halte ich das Urteil für falsch.
Erstens durfte das Boot laut Kapitulationsbedingungen nicht mehr auslaufen, damit hat sich der Kommandant über die Befehle seine obersten Vorgesetzten gesetzt. Faktisch "Befehlsverweigerung" und damit wäre der Kommandant vor ein Gericht zu stellen (ja, ich weiß das da Viele weggesehen haben und Fahrten unternommen wurden).
Zweitens, auch wenn die Gerichtsbarkeit der Kriegsmarine noch Gültigkeit hatte, bezweifle ich, das Todesurteile nach einer Kapitulation so ausgesprochen werden durften. Man hätte die Meuterer festsetzen können, damit wäre der Gerichtsbarkeit vorerst Genüge getan. Über ein Gerichtsverfahren wäre zu einem späteren Zeitpunkt mit den Alliierten eine Entscheidung zu suchen. Die Urteile ware völlig überzogen und unnötig, da keiner der an Bord Festgesetzten zu Schaden kam und eine weitere Fahrt nach Kurland von zweifelhaftem Ergebnis. In diesem Sinne kann ich eine Auflehnung (um nicht den Begriff Meuterei permanent zu verwenden) durchaus nachvollziehen.
Grundsätzlich sind solche Standgerichte in meinen Augen nur ein Zeichen von Schwäche und erbärmlich, Todesurteile sowieso abzulehnen. Man kann das auch gern mit der Kaiserlichen Marine vergleichen, die trotz Aufständen 1917 nur 2 Todesurteile vollzog, was man im Nachhinein auch als unnötig ansah.
Servus

Thomas

Suicide Is Not a War-Winning Strategy

Axel Niestlé


[/quote]
Zitat von: Arche am 07 Mai 2020, 17:24:36
Hallo zusammen,

vielleicht hat Axel auch mich gemeint, der hier mit Besserwisserei auffällt.

Nein, ganz sicher nicht! Dafür schätzen wir die Arbeit des anderen zu sehr.

Mit den besten Grüßen

Axel Niestlé

Spee

Servus,

hmm... ich bin jetzt wirklich ins Grübeln geraten und würde gern die Meinung von Anderen dazu hören.

Wenn der Oberbefehlshaber ab einem gegeben Zeitpunkt befiehlt, das sämtliche Handlungen einzustellen sind, dann wäre doch eine Fahrt wie im gegebenen Fall eine Befehlsverweigerung. Wenn dann eine Gruppe von Matrosen dagegen vorgeht, könnte man dieses Vorgehen doch als einen Versuch werten, den Befehl des Oberbefehlshabers durchzusetzen.
Ich weiß, das klingt gerade sehr konstruiert, aber m.E. kann man doch nicht auf die Durchführung von Befehlen pochen, wenn dabei ein höher gesetzter Befehl missachtet/gebrochen wird. Oder liege ich da komplett daneben?
Servus

Thomas

Suicide Is Not a War-Winning Strategy

jockel


Arche

Hallo zusammen,

Axel: Danke!

maxim: ich bin noch eine Antwort schuldig. Auf Antrag wurde direkt nach Kriegsende beim Marinegericht der Auffangstelle Flensburg-Mürwik über die Wiederaufnahme von Verfahren entschieden. Das Ergebnis war u.a., dass ein Verfahren eingestellt wurde oder das alte Urteil wurde aufgehoben, wenn Gründe dafür vorlagen. Dies galt in der Regel für Verfahren mit schneller Urteilsfindung. Bei Standgerichtsurteilen wurden in der Regel immer Verfahrensfehler begangen, um z.B eine Wiederaufnahme zu erreichen. In unseren Fall der Meuterei hätten dies die vier Marinesoldaten, die Zuchthausstrafen erhielten, erreichen können. Natürlich wurden Wiederaufnahmeverfahren auch abgelehnt, soweit es keine ersichtlichen Verfahrensfehler vorlagen. Typisch wäre zum Beispiel, dass es keine Zeit gab, mit dem zugeordneten Anwalt zu sprechen.

PS. In Berlin ist heute Feiertag. Ich gehe gleich zu einer kleinen Gedenkfeier hier auf dem Friedhof Baumschulenweg. Hier liegt ein Major der Wehrmacht begraben, der 1943 hingerichtet wurde, weil er für Juden Pässe gefälscht hat.

Urs Heßling

moin,

Zitat von: Spee am 08 Mai 2020, 11:37:59
Wenn der Oberbefehlshaber ab einem gegeben Zeitpunkt befiehlt, das sämtliche Handlungen einzustellen sind, dann wäre doch eine Fahrt wie im gegebenen Fall eine Befehlsverweigerung. Wenn dann eine Gruppe von Matrosen dagegen vorgeht, könnte man dieses Vorgehen doch als einen Versuch werten, den Befehl des Oberbefehlshabers durchzusetzen.
Ich denke, der OBdM hat selbst unsichere Befehlslage herbeigeführt.
Es galten die Bestimmungen der Teilkapitulation, siehe
https://en.wikipedia.org/wiki/German_surrender_at_L%C3%BCneburg_Heath#The_Instrument_of_Surrender
Anmerkung: Die Bedingung, nicht auszulaufen und Schiffe nicht zu versenken (U-Boote!) finde ich hier nicht; ich nahm bisher an, sie stünde mit im Text.

Gleichzeitig bestand die Weisung, die Evakuierungsfahrten fortzusetzen, weiter.

Jetzt kommt die juristische Spitzfindigkeit: Für alle Schiffe im Ostseebereich, die sich am 5.5., 08:00 außerhalb der deutschen oder dänischen Hoheitsgewässer befanden, galten die Bedingungen der Teilkapitulation nicht.

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

Spee

Servus Urs,

danke!

Jetzt kommt die juristische Spitzfindigkeit: Für alle Schiffe im Ostseebereich, die sich am 5.5., 08:00 außerhalb der deutschen oder dänischen Hoheitsgewässer befanden, galten die Bedingungen der Teilkapitulation nicht.

Unter der Bedingung, daß damit der Marsch von Marineeinheiten von Ost nach West noch möglich bleibt, nachvollziehbar. Aber in die Gegenrichtung? Lag der Minensucher nicht innerhalb von besagten Hoheitsgewässern?
Servus

Thomas

Suicide Is Not a War-Winning Strategy

maxim

Er soll um 8 Uhr aus Fredericia ausgelaufen sein - also war er um 8 Uhr noch in dänischen Hoheitsgewässern.

Urs Heßling

moin,

durch die letzten Beiträge wure ich daran erinnert, daß ein kleiner aber wesentlicher Teilaspekt bisher nicht erwähnt wurde:
Ein Kommandant kann von den gegebenen Befehlen abweichen, wenn er meint, dadurch im Sinne der Erreichung eines größeren Ziels zu handeln. Er muß sich anschließend (u.U. vor einem Kriegsgericht) dafür verantworten, aber er kann das tun. Das zeichnet diese im Militärischen besondere (und einsame) Position aus.
Und noch einmal wiederholt: Solange dieses Handeln keine Straftat (wie Mord usw.) beinhaltet, besteht für die Besatzung eine Pflicht zum Gehorsam.

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

maxim


Impressum & Datenschutzerklärung