Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht

Begonnen von Urs Heßling, 05 Mai 2020, 12:04:53

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maxim

Ich habe aber oben nicht von irgendwelchen Hintergründen gesprochen, sondern von der sehr konkreten Bedrohung für jeden Einzelnen. Selbst jemand aus der Provinz kam, war diese Person auch mal in einer Großstadt, z.B. in einen Stützpunkt der Kriegsmarine - und selbst jemand aus der Provinz dürfte gemerkt haben, über was man reden darf und was nicht.

Natürlich konnte sich ein Soldat dem nicht so leicht entziehen. Wir haben hier ja das Beispiel von mehreren Matrosen, die es versuchten und dafür umgebracht wurden.

Spee

Servus,

wie sah den die "konkrete Bedrohung" aus, wenn man als recht unpolitischer Deutscher in dieser Welt aufgewachsen ist? Man kannte in diesem Sinne keine andere, würde ich behaupten. Diese Soldaten sind mit dem Dritten Reich aufgewachsen, sie kannten nichts anderes. Sie haben nur erlebt, das es aufwärts ging, wirtschaftlich und für fast Jeden persönlich. Davor gab es Hungersnöte, wirtschaftliche Depression, Strassenkämpfe, Unruhen. Es gab Geschichten vom Krieg, von den Toten in der Familie, dem "Verrat an den Frontkämpfern", der "Knebelung" durch den Versailler Vertrag, den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Deutschland und die Menschen in dem Land, die ungeliebte Weimarer Republik. Das war alles vor 1933, danach das "neue" Deutschland, in dem man, wenn man halbwegs mitspielte ganz gut leben konnte. Für Viele auf jeden Fall besser als vorher.
Die sollen wirklich in aller Konsequenz ihren Missbrauch durch die Nationalsozialisten erkannt haben? Ich bezweifle das.
Servus

Thomas

Suicide Is Not a War-Winning Strategy

Hastei


maxim

Na ja, diese Soldaten haben mitbekommen, dass alles bergab ging, immer mehr zerstört wurde, Lebensmittel immer knapper wurden, an allen Fronten es Niederlagen hagelte und dass wenn man etwas falsches sagte, dass sehr schnell üble Konsequenzen für einen selbst haben konnte - bis hin eben zum Standgericht.

Ein Soldat, der 1944/45 18 oder 19 war, ist sicher in diesem Regime aufgewachsen - aber das bedeutet ja trotzdem, dass sie es mitbekommen haben. Dazu muss man sagen, dass sie bewusst (in Bezug auf ihr Alter!) sehr viel mehr von dem Niedergang mitbekommen haben, als von irgendwelchen Problemen aus der Zeit vor 1933, da sie damals noch Kinder waren.

Aber noch einmal: mein Punkt war ein anderer: diese Leute haben, ob ihnen das bewusst war oder nicht, für ein Terroregime gekämpft. Damit will ich nicht jedem einzelnen dieser Leute einen Vorwurf machen. Warum schreibe ich sonst das "unabhängig von ihrer Einstellung"?

Das war in Reaktion auf jemanden geschrieben, der sich über den Begriff "Nazi-Deutschland" echauffierte.

Bei Zeitzeugen sollte man übrigens allgemein vorsichtig sein. Das menschliche Gedächtnis verändert sich über die Zeit. D.h. jemand erinnert sich nach 75 Jahren nicht an das, was wirklich damals passiert war, sondern gibt den aktuellen Zustand dieser Erinnerung wieder, die über die Jahrzehnte sich massiv verändert haben kann. Es sollte offensichtlich sein, dass es viele Gründe gibt über diese Ereignisse und die eigene Rolle dabei nachzudenken - und dieses Nachdenken verändert die Erinnerung. Das ist übrigens nicht in der Hinsicht gemeint, dass sich jemand bewusst alles schön denkt. Das ist in der Hinsicht gemeint, dass solche Erinnerungen extrem unzuverlässig sind. Das gilt übrigens nicht nur für Erinnerungen nach Jahrzehnten, sondern selbst kurz nach einem Ereignis können Erinnerungen bereits stark verzerrt sein.

Spee

Servus,

das Zeitzeugen mit Vorsicht zu betrachten sind, ist verständlich. Viele haben sich nach dem Krieg eine andere Betrachtung ihres Verhaltens unterzogen, was der Wahrheit mit Sicherheit nicht immer entsprach. Aber es war m.E. eben auch ein Ansatz das Erlebte in irgendeiner Art zu verarbeiten und der Versuch mit sich ins Reine zu kommen, halbwegs. Es war auch keine Zeit, lang darüber nachzudenken, da standen andere Dinge im Vordergrund, die wichtiger waren.
Ich denke, es ist aus heutiger Sicht sehr schwierig, die damalige Generation der ca. 20 Jährigen in ihrem Tun und Handeln zu verstehen und damit wird es schwer, sie zu be- oder verurteilen.
Servus

Thomas

Suicide Is Not a War-Winning Strategy

Big A

#50
ZitatEs ist schwierig, mit dem Wissen von heute über die damalige Generation zu urteilen. M.E. macht man es sich damit oftmals zu einfach. Und vor allem weiß keiner, wie er sich selbst in der konkreten Situation verhalten hätte.

Zitat
Ich denke, es ist aus heutiger Sicht sehr schwierig, die damalige Generation der ca. 20 Jährigen in ihrem Tun und Handeln zu verstehen und damit wird es schwer, sie zu be- oder verurteilen.

Und genau das ist der Punkt!  Ja, sie haben in der ex-post-Betrachtung einem Terrorregime gedient aber waren sie sich dessen wirklich bewusst? Es gab kein Internet, keine freie Berichterstattung wie auch immer, keinen Austausch mit der (sehr kleinen) "Elite" der Andersdenkenden.

Meine Mutter (Jahrgang 30) erzählt heute noch, dass sie sich dafür schämt im Krieg gesagt zu haben, wenn der Führer nicht mehr lebe wolle sie auch tot sein. Sie wusste es ja nicht besser.
Ich empfehle mal einen Besuch der Gedenkstätte Vogelsang in der Eifel (https://vogelsang-ip.de/de/startseite.html) wo einem klar gemacht wird wie die herrschende Clique die jungen Menschen verführte, belog, benutzte.

Wer jahrelanger Gehirnwäsche ausgesetzt ist kann nicht frei denken.
(aktuelles Beispiel wäre die Volksrepublik Korea; die dort lebenden "normalen" Menschen sind - nach Allem, was über die in seriöser Berichterstattung dokumentiert ist - auch nicht der Meinung, einem Terrorregime zu dienen!

Just my 5 ct

Axel
Weapons are no good unless there are guts on both sides of the bayonet.
(Gen. Walter Kruger, 6th Army)

Real men don't need experts to tell them whose asses to kick.

Axel Niestlé

Zitat von: M-54842 am 06 Mai 2020, 20:20:17
Das es auch Offiziere gab, die menschlich und mit Verstand reagierten, hat Gerrit Reichert in seinem Buch „U 96 Realität und Mythos“ dokumentiert. Dort heißt es auf Seite 137:
„Mein Name ist Dr. Koreuber, ich war einer der Ärzte, die damals den U-Booten wegen der hohen Fliegerverluste zugeteilt wurden. Als ein Kollege und ich in Bergen auf ein U-Boot sollten, hielten wir das für sinnlos und sprachen offen darüber. Wir wurden denunziert, es kam zu Standgericht und Urteil. Nach kurzer Beratung von Obersten Gerichtsherrn und Beisitzern wurden wir zum Tode durch Erschießen verurteilt. Nach Verkündung bat der Gerichtsherr die Beisitzer, den Raum zu verlassen, um noch ein letztes Wort mit den Delinquenten zu sprechen. Wir saßen natürlich da wie vor den Kopf geschlagen. Der Gerichtsherr war Ihr Vater, Heinrich Lehmann-Willenbrock. Er ließ seine Ordonnanz drei Gläser mit Cognac bringen, diese gehen und sagte, nachdem er uns hatte davon trinken lassen: Meine Herren, Sie wissen, dass ich nicht anders konnte, als Sie zum Tode zu verurteilen. Aber Sie sollten auch wissen, dass sämtliche Todesurteile in Berlin unterschrieben werden müssen. Und manche Post geht von Berlin nach Bergen verloren. Auf ihr Wohl! So war Ihr Vater. Nur durch ihn sitze ich hier vor Ihnen.“


Tolle Geschichte! Aber leider wohl nur reine Phantasie des Protagonisten, da die genannten Vorgänge sich nicht mit der damaligen Wirklichkeit in Einklang bringen lassen.

Aber sei es drum. Der Threat ist ohnehin zum Glaubenskrieg für einige selbsternannte Besserwisser verkommen. Deshalb ein ehrliches "Sorry" an Dich, lieber Urs, dass ich Deinen gutgemeinten Post auf die falsche Route gelenkt habe. 

Axel

maxim

Wer es selbst aus heutiger Sicht nicht besser weiß, hat nun mal wirklich ein Problem ;)

Spee

Servus,

was genau weiß man den heute besser?
Stellt sich nicht die Frage, aus welchen Motiven eine Fahnenflucht begangen wurde? Oder ist Fahnenflucht 1945 grundsätzlich eine "Widerstandsaktion"? Würde man einen im Hinterland plündernden, mordenden Soldaten, und diese Fälle gab es, der sich vorher heimlich von der Truppe abgesetzt hat als "Widerstandskämpfer" betrachten? Oder ist das nicht Fahnenflucht aus niedersten Beweggründen?
Ist diese Art der Fahnenflucht mit der Bootsbesatzung gleichzusetzen, die sich im Mai 1945 nach Schweden absetzt, um ihr Leben zu retten?
Ich denke, selbst die Frage der Fahnenflucht im Dritten Reich sollte nicht pauschal als "Widerstand" betrachtet werden, sondern muss einer Fallanalyse unterzogen werden.
Daher kann ich mich Axels Meinung auch durchaus anschließen, das nicht jede Entscheidung in dieser Zeit so einfach beurteilt werden kann und sollte.
Servus

Thomas

Suicide Is Not a War-Winning Strategy

Hastei


maxim

Zitat von: Spee am 07 Mai 2020, 11:44:43
Stellt sich nicht die Frage, aus welchen Motiven eine Fahnenflucht begangen wurde? Oder ist Fahnenflucht 1945 grundsätzlich eine "Widerstandsaktion"?
Fahnenflucht ist 1945 sicher grundsätzlich eine vernünftige Entscheidung gewesen, aber wir wissen natürlich nicht in jedem Fall, warum jemand sich dafür entschieden hat. Wenn niemand davon überlebt hat, wird es sicher noch schwieriger, die Motive nachzuvollziehen.

Im Falle der Meuterei geht es aber um mehr: diese Leute sind nicht einfach abgehauen, sondern haben sich offen gegen ihre Offiziere gestellt. Das ist schon eine sehr bewusste, sehr klare Handlung (aber natürlich keine Aussage über die Motive). Eine Widerstandshandlung ist das sicher - insbesondere, wenn man bedenkt, was alles als Widerstandshandlung gilt.

ABER: Axels Kommentar bezog sich auf etwas anderes, auf etwas, das man heute natürlich besser weiß. Es ist ja nicht so, dass die Diskussion hier zwischen Leuten auf dem Wissensstand vom Mai 1945 und welchen vom Mai 2020 stattfindet. Sondern alle hier sind auf dem Wissensstand von 2020. D.h. niemand kann sich hier hinter dem Wissensstand vom Mai 1945 "verstecken".

Übrigens wegen dem damaligen Wissen: die Auswertung der heimliche Abhören von deutschen Soldaten, die 1942-45 als Kriegsgefangene in den USA waren, hat sehr wohl ergeben, dass viele damals auch viel über das größere Bild wussten. Also nicht nur über die persönlichen Gefahren, wenn sie offen zu den falschen Leuten redeten, sondern auch über den Holocaust und andere Verbrechen. Es gibt dazu eine Studie: "Kameraden. Die Wehrmacht von innen" von Felix Römer. Römer hat diese Abhörprotokolle ausgewertet. Das ist eine Auswertung von zeitgenössischen Dokumenten, nicht Hörensagen 75 Jahre später.

Spee

Servus,

ich kenne das Buch und es bestätigt mir nur meine Meinung. Einige wussten etwas, andere nicht. Einige hatten dies und jenes gehört, andere nicht, viel Gerüchteküche dabei.
Das lässt m.E. aber keinen Rückschluss zu, das alle über alles oder vieles informiert waren.
Und selbst bei dem Thema Meuterei werde ich nicht allen Teilnehmern eine Absolution erteilen. Ich kann einen 17 Jährigen verstehen, der einfach Angst um seine Gesundheit und sein Leben hat, das ist für Jeden nachvollziehbar. Ich kann jeden Soldaten verstehen, der nur noch nach Hause wollte, um nach seiner Familie zu sehen, jeden Landser, der sich auf dem Rückzug nach Westen abgesetzt hat, um nicht den Russen in die Hände zu fallen. All das ist verständlich. Aber es gab eben auch Fälle, da ging es nur um den eigenen Vorteil, da sind z.T. auch ehemals stramme Nationalsozialisten aus Feigheit abgetaucht bzw. haben sabotiert oder gemeutert. Spricht es diese Personen frei, das sie in einer Diktatur der Meuterei angeklagt wurden?
Es wäre für mich in diesem Sinne wirklich interessant zu wissen, ob ein Meuterei aus persönlichen Gründen als Widerstand gegen eine Diktatur deklariert werden kann, wenn offensichtlich der eigene Vorteil der Antrieb ist? Ist das juristisch haltbar?
Servus

Thomas

Suicide Is Not a War-Winning Strategy

maxim

Niemand hat behauptet, dass alle über alles informiert waren. Das Buch zeigt aber recht deutlich, dass es ein Mythos ist, wenn behauptet wird, dass die Soldaten von den Verbrechen nichts wussten.

Geht es jetzt um diese konkrete Meuterei oder irgendwelche fiktiven Fälle?

Stauffenberg war auch mal überzeugter Nazi, hat seine Meinung aber geändert. Was sagt das jetzt?

Warum werden diesen Meuterern jetzt bestimmte Motive unterstellt (nur das eigene Leben retten etc.), aber wenn es um andere Soldaten geht, beschwerst du dich darüber, dass man schreibst, dass sie objektiv unabhängig von ihrer Einstellung für ein Terrorregime gekämpft haben? Für mich klingt das nach zwei sehr merkwürdigen Maßstäben - und zwar einen sehr strikten in Bezug auf die Meuterer und einen sehr entschuldigen, wenn es um die geht, die weiter kämpften.

Ob jemand Widerstand oder nicht geleistet hat, ist eine historische, keine juristische Frage. Und im Vergleich zu diesen Meuterern gibt es Aktionen, insbesondere des "konservativen Widerstands", die als Widerstand bezeichnet werden, obwohl sie für das Regime und die Widerständler keinerlei Folgen hatten. Das ist hier offensichtlich anders.

Juristisch im Unrecht waren offensichtlich die Offiziere des Minensuchers und die, die dessen Einsatz angeordnet haben - sie haben die Kapitulationsbedingungen verletzt.

Hastei

Ich kam mal vor langer Zeit mit einem Deserteur ins Gespräch.
Sein Grund :" ich hatte die Schnauze einfach voll, ewig Hunger und dann die Kälte " Das hatte also nichts mit Widerstand und Ablehnung des Regiems zu tun.
Ich persönlich finde, (auch wenn Ihr mich jetzt in der Luft zerreisßt ), ein Deserteur haut ab und läßt seine Kameraden im Stich.(und nicht nur das ). Das sind pers. Gründe. Sehr wohl ist mir bewußt, das ich jetzt hier im warmen Raum sitze und alle über einen Kam schere. Auch versuche ich zu verstehen, dass einer kurz vor Kriegsende nicht noch auf der Strecke bleiben will, aber einfach abhauen und seine Kameraden zurücklassen, nee, finde ich nicht gut.

Gruß Hastei

Spee

Servus,

Warum werden diesen Meuterern jetzt bestimmte Motive unterstellt (nur das eigene Leben retten etc.), aber wenn es um andere Soldaten geht, beschwerst du dich darüber, dass man schreibst, dass sie objektiv unabhängig von ihrer Einstellung für ein Terrorregime gekämpft haben? Für mich klingt das nach zwei sehr merkwürdigen Maßstäben - und zwar einen sehr strikten in Bezug auf die Meuterer und einen sehr entschuldigen, wenn es um die geht, die weiter kämpften.

Ich setze gar keine Maßstäbe.
Meuterei geschieht immer aus irgendwelchen Motiven, das ist keine Unterstellung sondern Realität. Wenn Soldaten ihr Leben retten wollen, dann ist das ein Motiv, keine Unterstellung, oder? Und genau aus dem Grund muss man fragen und unterscheiden, welche Motive zu einer Meuterei führten und dann klären, ob "richtig" oder "falsch". Das ist m.E. ganz klar eine juristische Frage.
Wo ist da bitte der "merkwürdige" Maßstab?


Servus

Thomas

Suicide Is Not a War-Winning Strategy

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